wiki:walz
Unterschiede
Hier werden die Unterschiede zwischen zwei Versionen der Seite angezeigt.
Beide Seiten, vorherige ÜberarbeitungVorherige ÜberarbeitungNächste Überarbeitung | Vorherige Überarbeitung | ||
wiki:walz [2021/09/12 10:02] – norbert | wiki:walz [2024/09/26 03:38] (aktuell) – [Die Ritter der Landstraße] norbert | ||
---|---|---|---|
Zeile 1: | Zeile 1: | ||
====== Die Ritter der Landstraße ====== | ====== Die Ritter der Landstraße ====== | ||
- | von '' | + | |
- | erschienen erstmals 1995 als Teil 3 in der Artikelreihe // | + | von [[wiki: |
+ | erschienen erstmals 1995 als Teil 3 in der Artikelreihe // | ||
+ | -> [[wiki: | ||
Die reisenden Helden aller Zeiten sind meist tragische Gestalten: der Ritter Don Quijote, der Tramp Charlie Chaplin oder Dennis Hopper in Easy Rider. | Die reisenden Helden aller Zeiten sind meist tragische Gestalten: der Ritter Don Quijote, der Tramp Charlie Chaplin oder Dennis Hopper in Easy Rider. | ||
Zeile 7: | Zeile 9: | ||
Kein Museum setzt diesen Rittern der Landstraße ein Denkmal, seit das *[[wiki: | Kein Museum setzt diesen Rittern der Landstraße ein Denkmal, seit das *[[wiki: | ||
+ | |||
===== Fahrendes Volk ===== | ===== Fahrendes Volk ===== | ||
Zeile 17: | Zeile 20: | ||
===== 1 Einleitung ===== | ===== 1 Einleitung ===== | ||
+ | |||
Um 1900 sind auf den Straßen Deutschlands viele Menschen zu Fuß unterwegs, aus Not, durch Zwang, mehr oder weniger freiwillig: Randgruppen mit ähnlichen Nöten und eigenen Gesetzmäßigkeiten. Insbesondere drei große Gruppen lassen sich erkennen, wenn auch nicht immer unterscheiden: | Um 1900 sind auf den Straßen Deutschlands viele Menschen zu Fuß unterwegs, aus Not, durch Zwang, mehr oder weniger freiwillig: Randgruppen mit ähnlichen Nöten und eigenen Gesetzmäßigkeiten. Insbesondere drei große Gruppen lassen sich erkennen, wenn auch nicht immer unterscheiden: | ||
* Handwerksburschen auf der Walz | * Handwerksburschen auf der Walz | ||
- | * Wanderarbeiter | + | * [[wiki: |
- | * Vagabunden\\ | + | * [[wiki: |
- | Wie reiste das fahrende Volk? Was waren ihre Techniken des Unterwegs-seins? | + | Wie reiste das fahrende Volk? Was waren ihre Techniken des [[wiki: |
* '' | * '' | ||
* '' | * '' | ||
Zeile 47: | Zeile 51: | ||
* die [[wiki: | * die [[wiki: | ||
Fachliche Fortbildung spielt keine Rolle - im Verlauf der Reise gibt es nur drei Situationen, | Fachliche Fortbildung spielt keine Rolle - im Verlauf der Reise gibt es nur drei Situationen, | ||
- | Alfred Pfarre kann auf Erfahrungen aus dem Wandervogel-Milieu zurückblicken. Er will seiner Kündigung zuvorkommen, | + | Alfred Pfarre kann auf Erfahrungen aus dem Wandervogel-Milieu zurückblicken. Er will seiner Kündigung zuvorkommen, |
- | Als Schroeder seine Ausbildung zum Installateurgesellen bei den städtischen Gas- und Wasserwerken abgeschlossen hat, liest er am schwarzen Brett:// „Den Installateurgesellen, | + | Als Schroeder seine Ausbildung zum Installateurgesellen bei den städtischen Gas- und Wasserwerken abgeschlossen hat, liest er am schwarzen Brett:// „Den Installateurgesellen, |
Schroeder berichtet von zweien seit zwei Jahren wandernden Zimmerern. | Schroeder berichtet von zweien seit zwei Jahren wandernden Zimmerern. | ||
> „`Noch ein Jahr´, sagt der mit dem steifen Hut, `dann geht´s nach Hause.´ | > „`Noch ein Jahr´, sagt der mit dem steifen Hut, `dann geht´s nach Hause.´ | ||
Zeile 62: | Zeile 66: | ||
==== Die Walz als Ritus und Prüfung ==== | ==== Die Walz als Ritus und Prüfung ==== | ||
Gemeinsam scheint den Handwerksburschen, | Gemeinsam scheint den Handwerksburschen, | ||
- | Die Walz ist auch Prüfstein für die Persönlichkeit: | + | Die Walz ist auch Prüfstein für die Persönlichkeit: |
Für jeden bringt die Reise einen persönlichen Fortschritt, | Für jeden bringt die Reise einen persönlichen Fortschritt, | ||
==== Felleisen und Berliner | ==== Felleisen und Berliner | ||
Zeile 75: | Zeile 79: | ||
==== Die Penunse ==== | ==== Die Penunse ==== | ||
Natürlich spielt das Geld, die Penunse ((das Wort kommt vermutlich aus dem Sorbischen pjenjezy oder dem polnischen penadz, wurde später auch zu Peseten verballhornt)) eine große Rolle. Keiner von den Gesellen zieht ohne Geld los, doch bei allen ist früher oder später der Geldbeutel leer. Dann gab es sehr verschiedene Strategien, sich Geld zu verschaffen. Am einfachsten machte es sich Alfred Pfarre: er fand keine Arbeit, mochte nicht betteln, also ließ er sich Geld von den Eltern schicken (in 8 Monaten 300 Mark), das allerdings nicht reichte. //„Über zwei Wochen ohne Geld, zwei Wochen Kampf um Brot und Bett, zwei lange, lange Wochen. Am zweiten Tag begann die Sorge, am dritten schon die Not.“// ((Pfarre, S. 176)) Und bald darauf:// „Nun kamen zwei Wochen ohne Geld. Von trockenen Brotknüsten allein konnte ich nicht leben, ich brauchte Geld zum Schlafen, jeden Tag acht Soldi ((Eine Lira ist einen Franc oder 80 Pfennige wert. Die Lira hat 100 Centesimi, fünf Centesimi sind ein Soldo. s. „Land u. Leute in Italien“)). Und auch an den Tagen wo der Brotknust fehlte, Geld zum Schlafen hatte ich auch da erhalten, wenn nicht um acht Uhr, dann um Mitternacht.“// | Natürlich spielt das Geld, die Penunse ((das Wort kommt vermutlich aus dem Sorbischen pjenjezy oder dem polnischen penadz, wurde später auch zu Peseten verballhornt)) eine große Rolle. Keiner von den Gesellen zieht ohne Geld los, doch bei allen ist früher oder später der Geldbeutel leer. Dann gab es sehr verschiedene Strategien, sich Geld zu verschaffen. Am einfachsten machte es sich Alfred Pfarre: er fand keine Arbeit, mochte nicht betteln, also ließ er sich Geld von den Eltern schicken (in 8 Monaten 300 Mark), das allerdings nicht reichte. //„Über zwei Wochen ohne Geld, zwei Wochen Kampf um Brot und Bett, zwei lange, lange Wochen. Am zweiten Tag begann die Sorge, am dritten schon die Not.“// ((Pfarre, S. 176)) Und bald darauf:// „Nun kamen zwei Wochen ohne Geld. Von trockenen Brotknüsten allein konnte ich nicht leben, ich brauchte Geld zum Schlafen, jeden Tag acht Soldi ((Eine Lira ist einen Franc oder 80 Pfennige wert. Die Lira hat 100 Centesimi, fünf Centesimi sind ein Soldo. s. „Land u. Leute in Italien“)). Und auch an den Tagen wo der Brotknust fehlte, Geld zum Schlafen hatte ich auch da erhalten, wenn nicht um acht Uhr, dann um Mitternacht.“// | ||
- | Dann gab es kleine Hilfen von Kunden, beim Deutschen Hilfsverein (manchmal), bei Pfarrern, im Konsulat oder der Botschaft (selten). Kuckuck ((Mit `Kuckuck´, dem Adler im Wappen, ist der (deutsche) Konsul gemeint)) und Kunde ist ein ergiebiges und für den Kunden unerfreuliches Thema, meint Pfarre. Nur selten hilft ihm das Konsulat. // | + | Dann gab es kleine Hilfen von [[wiki: |
Winnig arbeitet in den neunziger Jahren und erhält einmal einen Wochenlohn von 11 Mark, was ihm wenig erscheint, er staunt aber über einen Wochenlohn von 60 Mark, das sei das gleiche, was sein Vater im Monat verdiene. Umgerechnet bedeutet das einen Stundenverdienst von 22 bis 45 Pfennige bei einer 48-Stunden-Woche. ((Winnig, S. 22)) Ein Kunde erzählt ihm, wie er sich drei Monate in Genua über Wasser gehalten hat: //„Du darfst nicht warten, bis dir einer Arbeit gibt, du mußt einfach zufassen, wo du etwas siehst; wenn sie dich nicht wegjagen, bezahlen sie dich auch; das ist so Sitte.“// ((Winnig, S. 137)) Winnig verdient immer genug, um davon leben zu können, er kalkuliert eine Mark täglich für Unterkunft und Essen: Abendessen, Nachtlager und Morgenkaffee für siebzig Pfennig, Brot und Zukost, Obst und Wurst für täglich zwanzig Pfennige, ein viertel Liter Bier kostet sechs, ein Branntwein drei Pfennige. ((Winnig, S. 169)) Einmal gerät er in Bedrängnis: | Winnig arbeitet in den neunziger Jahren und erhält einmal einen Wochenlohn von 11 Mark, was ihm wenig erscheint, er staunt aber über einen Wochenlohn von 60 Mark, das sei das gleiche, was sein Vater im Monat verdiene. Umgerechnet bedeutet das einen Stundenverdienst von 22 bis 45 Pfennige bei einer 48-Stunden-Woche. ((Winnig, S. 22)) Ein Kunde erzählt ihm, wie er sich drei Monate in Genua über Wasser gehalten hat: //„Du darfst nicht warten, bis dir einer Arbeit gibt, du mußt einfach zufassen, wo du etwas siehst; wenn sie dich nicht wegjagen, bezahlen sie dich auch; das ist so Sitte.“// ((Winnig, S. 137)) Winnig verdient immer genug, um davon leben zu können, er kalkuliert eine Mark täglich für Unterkunft und Essen: Abendessen, Nachtlager und Morgenkaffee für siebzig Pfennig, Brot und Zukost, Obst und Wurst für täglich zwanzig Pfennige, ein viertel Liter Bier kostet sechs, ein Branntwein drei Pfennige. ((Winnig, S. 169)) Einmal gerät er in Bedrängnis: | ||
Zeile 82: | Zeile 86: | ||
==== Hanf mit Unvernunft oder Lechum und Beza==== | ==== Hanf mit Unvernunft oder Lechum und Beza==== | ||
- | Geld ist nur Mittel zum Zweck, und der heißt meist „essen“, | + | Geld ist nur Mittel zum Zweck, und der heißt meist „essen“, |
Schroeder berichtet ähnliches: Er erhält in einem Dorf von einem Metzger eine Suppe vorgesetzt, nachdem er an dessen Türe betttelte:// | Schroeder berichtet ähnliches: Er erhält in einem Dorf von einem Metzger eine Suppe vorgesetzt, nachdem er an dessen Türe betttelte:// | ||
+ | |||
==== Die Kundenpennen ==== | ==== Die Kundenpennen ==== | ||
- | Jeder Kunde hatte seine Kundschaft, einen Ausweis, mit Belegen aller Stationen des Wanderweges (1731 durch Reichsverordnung bestimmt). Handwerksburschen hatten ein Übernachtungsbuch zu führen, die Herbergsväter stempelten es ab. Bei Polizeikontrollen wurde es verlangt und wer keine Übernachtung unter einem Dach nachweisen konnte, erhielt Arrest oder wurde abgeschoben. Neben dem Verbot der Bettelei diente dies der Kontrolle und war ein Versuch, die [[wiki: | + | Jeder [[wiki: |
Die größten Ausgaben entstanden für die Unterkunft, die Penne ((Die Penne kann sowohl eine Schlafstelle als auch eine Herberge, ein Gasthaus, ein Nachtquartier bezeichnen. Ein anderer Name dafür ist `Nest´.)). Schroeder findet sein Unterkommen einmal in Solingen bei der Heilsarmee, eine Goldmark kostet die Übernachtung, | Die größten Ausgaben entstanden für die Unterkunft, die Penne ((Die Penne kann sowohl eine Schlafstelle als auch eine Herberge, ein Gasthaus, ein Nachtquartier bezeichnen. Ein anderer Name dafür ist `Nest´.)). Schroeder findet sein Unterkommen einmal in Solingen bei der Heilsarmee, eine Goldmark kostet die Übernachtung, | ||
Andere Übernachtungsstellen findet er bei Mutter Grün ((Im Freien übernachten hieß „bei Mutter Grün“ oder „bei der grünen Bettfrau“, | Andere Übernachtungsstellen findet er bei Mutter Grün ((Im Freien übernachten hieß „bei Mutter Grün“ oder „bei der grünen Bettfrau“, | ||
Zeile 91: | Zeile 96: | ||
Deutlich wird aber, daß solche Herbergen die Ausnahme waren. Roltsch erzählt:// „Wohl traf ich auf meiner Wanderung ganz gute Obdachlosenasyle, | Deutlich wird aber, daß solche Herbergen die Ausnahme waren. Roltsch erzählt:// „Wohl traf ich auf meiner Wanderung ganz gute Obdachlosenasyle, | ||
Eine wichtige Rolle spielen für Heinrichs die Unterkünfte des katholischen Gesellenvereins: | Eine wichtige Rolle spielen für Heinrichs die Unterkünfte des katholischen Gesellenvereins: | ||
- | In Städten bleibt lediglich das Asyl. Nur wer weniger als eine Mark fünfzig hat (Pfarre), darf dort übernachten. Und Geld läßt sich nicht verbergen: Sämtlicher Besitz mitsamt Kleidung muß abgegeben werden, dann erhält man für eine Nacht Hemd, Hose, Jacke, Pantoffel, Topf, Löffel, Suppe und Brot. Morgens gibt es wieder Suppe, einen Gutschein für das Mittagessen kann man in der Herberge zur Heimat einlösen. In München darf Pfarre drei Nächte im Nachtasyl verbringen, dann drei Tage im Stadtasyl. Anschließend bleibt nur die Straße. In Berlin gibt es dann die „Palme“, | + | In Städten bleibt lediglich das Asyl. Nur wer weniger als eine Mark fünfzig hat (Pfarre), darf dort übernachten. Und Geld läßt sich nicht verbergen: Sämtlicher Besitz mitsamt |
[[wiki: | [[wiki: | ||
- | Doch auch in größeren Dörfern gibt es ein Asyl: //„Das war ein elendes Gebäude, ohne Decke, ohne Zimmer, kahl im Innern bis zum Dachgiebel. Mit rohem Bretterverschlag brannte im Kamin ein qualmendes Feuer von nassem Reisig. ... Man brachte uns Wasser aus alten Konservendosen zu trinken. Vorne, gegenüber dem Eingang, lagen auf niedrigem Gestell zwei schmutzige Strohsäcke, | + | Doch auch in größeren Dörfern gibt es ein Asyl: //„Das war ein elendes Gebäude, ohne Decke, ohne Zimmer, kahl im Innern bis zum Dachgiebel. Mit rohem Bretterverschlag brannte im Kamin ein qualmendes Feuer von nassem Reisig. ... Man brachte uns Wasser aus alten Konservendosen zu trinken. Vorne, gegenüber dem Eingang, lagen auf niedrigem Gestell zwei schmutzige Strohsäcke, |
Über die Schweiz weiß Hasemann nicht viel Gutes: // | Über die Schweiz weiß Hasemann nicht viel Gutes: // | ||
Zeile 104: | Zeile 109: | ||
==== Kundenschall ==== | ==== Kundenschall ==== | ||
- | Mehr als heute zeichneten sich Kunden und [[wiki: | + | |
- | Die Kundensprache ((Diebssprache, | + | -> Rotwelsch |
- | Aber das fahrende Volk wollte ja gar nicht verstanden werden und übernahm aus den unterschiedlichsten Quellen Begriffe und schuf Redewendungen, | + | |
- | Das [[wiki: | + | |
- | Die Kundensprache führt zu einer Identität, man fühlt sich verbunden, man versteht sich oder grenzt sich ab. Während Winnig kaum jemals ein Wort der Kundensprache benutzt, pflegen Heinrichs, Pfarre, Schroedel sie ausgiebig und selbstverständlich.\\ | + | |
- | Heute finden sich in der Alltagssprache viele Ausdrücke, die der Kundensprache entstammen, deren Abstammung man ihnen nicht mehr ansieht, die allenfalls als salopp gelten: man grast heute Geschäfte ab, um etwas zu suchen, 1906 bedeutete es noch, eine Gegend abzubetteln und zu bestehlen. Andere in die Umgangssprache aufgenommene Begriffe sind: Knast, einen Knacks haben, Kneipe, Kluft, Klinken putzen gehen, jemanden hochgehen lassen, pennen, pfiffig sein, Pleite machen, Quadratlatschen, | + | |
==== Reisegebiete und -ziele ==== | ==== Reisegebiete und -ziele ==== | ||
Zeile 117: | Zeile 118: | ||
Die Mehrzahl der Wanderer jedoch blieb in Deutschland, | Die Mehrzahl der Wanderer jedoch blieb in Deutschland, | ||
Da das fahrende Volk auch weit hinter den Grenzen oft kontrolliert wurde, fiel man früher oder später auf, wenn man ohne Paß im Ausland war. Heinrichs schildert einen solchen Fall: //„Kaum eine Stunde waren wir von Deutschlands Grenzen entfernt. ... Plötzlich standen ... zwei dieser gefürchteten Beamten vor uns. Wieder hieß es kurz: `Papier vorzeigen.´ Wiederum konnte ich ungefährdet weiterziehen, | Da das fahrende Volk auch weit hinter den Grenzen oft kontrolliert wurde, fiel man früher oder später auf, wenn man ohne Paß im Ausland war. Heinrichs schildert einen solchen Fall: //„Kaum eine Stunde waren wir von Deutschlands Grenzen entfernt. ... Plötzlich standen ... zwei dieser gefürchteten Beamten vor uns. Wieder hieß es kurz: `Papier vorzeigen.´ Wiederum konnte ich ungefährdet weiterziehen, | ||
- | Schroeder trifft häufig Kunden, an bestimmten Orten tummeln sie sich, beispielsweise in Lindau. Ihre Reiseziele sind Hamburg, Pommern, Wien. Weit- und Fernreisende waren damals die Ausnahme, doch es gab sie. Er trifft zwei, die durch den Balkan in die Türkei wollen: //„Diese Tour hatten sie mir so verlockend geschildert, | + | Schroeder trifft häufig Kunden, an bestimmten Orten tummeln sie sich, beispielsweise in Lindau. Ihre Reiseziele sind Hamburg, Pommern, Wien. Weit- und Fernreisende waren damals die Ausnahme, doch es gab sie. Er trifft zwei, die durch den [[wiki: |
Winnig trifft in Bremerhaven einen alten Kunden, der ihm von seinen Reisen durch Dänemark, Holland, Frankreich, Schweiz, Österreich, | Winnig trifft in Bremerhaven einen alten Kunden, der ihm von seinen Reisen durch Dänemark, Holland, Frankreich, Schweiz, Österreich, | ||
Tippelnde Deutsche waren bereits in den zwanziger Jahren keine Seltenheit mehr auf dem Weg nach Indien. Faber wendet sich in Istanbul auskunftssuchend an einen Bahnbeamten: | Tippelnde Deutsche waren bereits in den zwanziger Jahren keine Seltenheit mehr auf dem Weg nach Indien. Faber wendet sich in Istanbul auskunftssuchend an einen Bahnbeamten: | ||
Zeile 126: | Zeile 127: | ||
Die wichtigsten Informationen gibt es auf der Straße, in den Asylen und sonstigen Treffpunkten der Kunden. Auch die einzelnen Berufsgruppen haben ihre Anlaufstellen, | Die wichtigsten Informationen gibt es auf der Straße, in den Asylen und sonstigen Treffpunkten der Kunden. Auch die einzelnen Berufsgruppen haben ihre Anlaufstellen, | ||
Pfarre will auf seiner Wanderung nach Italien Italienisch lernen und schimpft über seinen Sprachführer: | Pfarre will auf seiner Wanderung nach Italien Italienisch lernen und schimpft über seinen Sprachführer: | ||
- | Nur Winnig reist mit einer Landkarte, alle anderen gehen der Nase nach, * [[wiki: | + | Nur Winnig reist mit einer Landkarte, alle anderen gehen der Nase nach, [[wiki: |
==== Tippelfreunde ==== | ==== Tippelfreunde ==== | ||
Ein Wunder ist es nicht, auf andere Reisende zu treffen. 1924 haben angeblich 700.000 Reisende Italien besucht, darunter 69.000 Deutsche. Um 1900 sind in Rom etwa 1.000 Deutsche ansässig, weitere 2.000 halten sich dort zu Studienzwecken auf, mehrere tausend besuchen die Stadt als Touristen oder Pilger. ((Der Rompilger, S. 49)) \\ | Ein Wunder ist es nicht, auf andere Reisende zu treffen. 1924 haben angeblich 700.000 Reisende Italien besucht, darunter 69.000 Deutsche. Um 1900 sind in Rom etwa 1.000 Deutsche ansässig, weitere 2.000 halten sich dort zu Studienzwecken auf, mehrere tausend besuchen die Stadt als Touristen oder Pilger. ((Der Rompilger, S. 49)) \\ | ||
Alfred Pfarre ist es ein besonderes Bedürfnis, in Gesellschaft zu sein und kaum einmal reist er alleine. Auch in Italien trifft er immer wieder auf Gesellen, Kunden, [[wiki: | Alfred Pfarre ist es ein besonderes Bedürfnis, in Gesellschaft zu sein und kaum einmal reist er alleine. Auch in Italien trifft er immer wieder auf Gesellen, Kunden, [[wiki: | ||
- | Der Kontakt zu anderen war so ausgeprägt, | + | Der Kontakt zu anderen war so ausgeprägt, |
Gemeinsam wurde die Zeit kürzer, man konnte sich unterhalten, | Gemeinsam wurde die Zeit kürzer, man konnte sich unterhalten, | ||
//„Die wandernden Schleifer hatten damals einen Brauch, den sie als Geheimnis behandelten: | //„Die wandernden Schleifer hatten damals einen Brauch, den sie als Geheimnis behandelten: | ||
Zeile 138: | Zeile 139: | ||
==== Vom Gesellen zum Vagabunden ==== | ==== Vom Gesellen zum Vagabunden ==== | ||
Pfarre geht mit Hamburger Wandervogel-Freunden auf eine vierwöchige Ferienfahrt durch die Rhön und den Thüringer Wald, dann sagt er sich: „Ihr habt eine Ferienfahrt gemacht als sorglose Wandervögel, | Pfarre geht mit Hamburger Wandervogel-Freunden auf eine vierwöchige Ferienfahrt durch die Rhön und den Thüringer Wald, dann sagt er sich: „Ihr habt eine Ferienfahrt gemacht als sorglose Wandervögel, | ||
- | Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: // | + | Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: // |
Winnig schafft es tatsächlich, | Winnig schafft es tatsächlich, | ||
Winnig ist Handwerker, sucht aber seine Identität stärker im Dichterdasein. Als er einmal einen Aristokraten kennenlernt, | Winnig ist Handwerker, sucht aber seine Identität stärker im Dichterdasein. Als er einmal einen Aristokraten kennenlernt, | ||
Pfarre und Schroeder dagegen finden kaum Arbeit und merken schnell, wie leicht man ins Vagabundenmilieu abrutschen kann:// „Und es ist so leicht, auf die Landstraße zu gehen. Man tritt aus seiner Wohnung und wandert. Aber wie kommt man von der Landstraße wieder ab? wenn man keine Arbeit findet, wenn man kein Zuhause mehr hat? Die Eltern haben, sind glücklich; die keine haben, abgebrannt sind und sich in keiner Stadt festsetzen können, - die werden Speckjäger. ... Jeder hier hat etwas Rauhes und Hartes an sich, doch keinem ist der Grimm angeboren; alles ist aufgelegt, aufgesetzt, von der Landstraße, | Pfarre und Schroeder dagegen finden kaum Arbeit und merken schnell, wie leicht man ins Vagabundenmilieu abrutschen kann:// „Und es ist so leicht, auf die Landstraße zu gehen. Man tritt aus seiner Wohnung und wandert. Aber wie kommt man von der Landstraße wieder ab? wenn man keine Arbeit findet, wenn man kein Zuhause mehr hat? Die Eltern haben, sind glücklich; die keine haben, abgebrannt sind und sich in keiner Stadt festsetzen können, - die werden Speckjäger. ... Jeder hier hat etwas Rauhes und Hartes an sich, doch keinem ist der Grimm angeboren; alles ist aufgelegt, aufgesetzt, von der Landstraße, | ||
Auch für ungelernte Saisonarbeiter ist nur geringer Bedarf und die wenigen guten Stellen sind schnell fort. Obwohl das Arbeitsamt voller Arbeitssuchender ist, meldet sich niemand auf die ausgeschriebenen Stellen als Hopfenzupfer - das ist einfach zu schrecklich! Arbeit und Geld waren knapp und wurden immer knapper. Die Mechanisierung und Industrialisierung im [[wiki: | Auch für ungelernte Saisonarbeiter ist nur geringer Bedarf und die wenigen guten Stellen sind schnell fort. Obwohl das Arbeitsamt voller Arbeitssuchender ist, meldet sich niemand auf die ausgeschriebenen Stellen als Hopfenzupfer - das ist einfach zu schrecklich! Arbeit und Geld waren knapp und wurden immer knapper. Die Mechanisierung und Industrialisierung im [[wiki: | ||
- | Daß für die Gesellschaft Wandern nicht gleich Wandern ist, erkennt Hasemann schnell:// „Ist es doch Modesache jetzt, die Wandervögelei. Man hilft ihnen, obgleich sie nur bis Fürstenwalde laufen mit vielerlei Kochtöpfen, | + | Daß für die Gesellschaft Wandern nicht gleich Wandern ist, erkennt Hasemann schnell:// „Ist es doch Modesache jetzt, die Wandervögelei. Man hilft ihnen, obgleich sie nur bis Fürstenwalde laufen mit vielerlei Kochtöpfen, |
===== 4 Zwischen Tippelschickse und Kalle ===== | ===== 4 Zwischen Tippelschickse und Kalle ===== | ||
- | Die Beziehung zu Frauen kommt bei allen Walzbrüdern zur Sprache, alle erleben sie ihre Romanzen. Dabei handelt es sich aber ausschließlich um Beziehungen zu Frauen aus der bürgerlichen Gesellschaft: | + | Die Beziehung zu [[wiki: |
Bei allen zeigt sich das Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit, | Bei allen zeigt sich das Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit, | ||
Frauen waren nur selten unterwegs. Pfarre erwähnt eine Helene Weil, die als Kalle ((Kalle ist die Braut, Freundin, Geliebte ...und wird aus dem jidischen kal=leichtfertig abgeleitet)) einen Malerkunden begleitet. Der Maler hatte sie in der Breslauer Herberge zur Heimat kennengelernt, | Frauen waren nur selten unterwegs. Pfarre erwähnt eine Helene Weil, die als Kalle ((Kalle ist die Braut, Freundin, Geliebte ...und wird aus dem jidischen kal=leichtfertig abgeleitet)) einen Malerkunden begleitet. Der Maler hatte sie in der Breslauer Herberge zur Heimat kennengelernt, | ||
- | Auch Schroeder und Winnig erwähnen hier und da eine Tippelschwester oder -schickse ((Schickse wurde aus der jiddischen Bezeichnung für ein nichtjüdisches Mädchen, schikkzel, abgeleitet, doch im Laufe der Zeit immer negativer besetzt, zuletzt als Bezeichnung einer Prostituierten verwendet.)), | + | Auch Schroeder und Winnig erwähnen hier und da eine [[wiki: |
Faber hört im Iran von einem „Pärchen deutscher Wandervögel, | Faber hört im Iran von einem „Pärchen deutscher Wandervögel, | ||
Das Wort „Schickse“, | Das Wort „Schickse“, | ||
Zeile 163: | Zeile 164: | ||
==== Bettler und Fechtmeister ==== | ==== Bettler und Fechtmeister ==== | ||
Auch Schroeder fällt das Betteln schwer: // | Auch Schroeder fällt das Betteln schwer: // | ||
+ | |||
==== Speckjäger ==== | ==== Speckjäger ==== | ||
Pfarre unterscheidet „dreckige Speckjäger und halbgut gekleidete, geriebene Kunden“. Im Großen und Ganzen war es unter „modernen“ Kunden üblich, in tadelloser Kleidung und mit einem „guten“ Namen betteln zu gehen. ((Pfarre, S. 110)) Auch unter den Heimatlosen gab es Hierarchien, | Pfarre unterscheidet „dreckige Speckjäger und halbgut gekleidete, geriebene Kunden“. Im Großen und Ganzen war es unter „modernen“ Kunden üblich, in tadelloser Kleidung und mit einem „guten“ Namen betteln zu gehen. ((Pfarre, S. 110)) Auch unter den Heimatlosen gab es Hierarchien, | ||
Zeile 170: | Zeile 172: | ||
==== Schieben und Balance ==== | ==== Schieben und Balance ==== | ||
Vom Fechten über das Betteln führt der soziale Abstiegskampf zur sogenannten Schiebung ((Jedes heimliche und rasche Bewegen und damit auch fragwürdige Handelsgeschäfte, | Vom Fechten über das Betteln führt der soziale Abstiegskampf zur sogenannten Schiebung ((Jedes heimliche und rasche Bewegen und damit auch fragwürdige Handelsgeschäfte, | ||
+ | |||
==== Karrner ==== | ==== Karrner ==== | ||
Hasemann kennt dazu noch den Karrner: //„Aus irgendeiner gottverlassenen Gegend, in der tatsächlich nur ein Haus stand, ist er aufgebrochen, | Hasemann kennt dazu noch den Karrner: //„Aus irgendeiner gottverlassenen Gegend, in der tatsächlich nur ein Haus stand, ist er aufgebrochen, | ||
===== 6 Die Internationale der Vagabunden ===== | ===== 6 Die Internationale der Vagabunden ===== | ||
==== Die Armee du Salut ==== | ==== Die Armee du Salut ==== | ||
- | '' | + | '' |
'' | '' | ||
==== Mähändis ==== | ==== Mähändis ==== | ||
Zeile 196: | Zeile 199: | ||
==== Die Bruderschaft der Vagabunden ==== | ==== Die Bruderschaft der Vagabunden ==== | ||
Künstler und Intellektuelle gingen aus ideologischen Gründen auf die Landstraße. '' | Künstler und Intellektuelle gingen aus ideologischen Gründen auf die Landstraße. '' | ||
+ | |||
===== 8 Und heute? ===== | ===== 8 Und heute? ===== | ||
- | Die große Zeit der Handwerksgesellen ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg vorbei. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der [[wiki: | + | |
+ | Die große Zeit der Handwerksgesellen ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg vorbei. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der [[wiki: | ||
Vereinzelt wandern Handwerksgesellen noch heute mit // | Vereinzelt wandern Handwerksgesellen noch heute mit // | ||
Und die andere Seite, die Vagabunden, Berber, Landstreicher? | Und die andere Seite, die Vagabunden, Berber, Landstreicher? | ||
Was hat sich da schon viel geändert in den letzten 100 Jahren? Selbst Entromantisierung, | Was hat sich da schon viel geändert in den letzten 100 Jahren? Selbst Entromantisierung, | ||
- | ===== 9 Überblick: | + | ===== 9 Überblick: Kennzeichen der Walz ===== |
In der Übersicht fallen Ähnlichkleiten auf zwischen der Walz der Gesellen, dem Vagabundieren und dem heutigen Globetrotten, | In der Übersicht fallen Ähnlichkleiten auf zwischen der Walz der Gesellen, dem Vagabundieren und dem heutigen Globetrotten, | ||
* Der Wanderlust, der Reiselust, dem Fernweh steht der Fluch der Unruhe, der Heimatlosigkeit und Nicht-Seßhaftigkeit gegenüber. | * Der Wanderlust, der Reiselust, dem Fernweh steht der Fluch der Unruhe, der Heimatlosigkeit und Nicht-Seßhaftigkeit gegenüber. | ||
- | * Die Besitzlosigkeit, | + | * Die Besitzlosigkeit, |
* Der Flexibilität in der Lebensplanung, | * Der Flexibilität in der Lebensplanung, | ||
* Freiheit von sozialen Bindungen und Ungebundenheit gegenüber anderen Menschen kann gesellschaftliches Außenseitertum bedeuten und zur Unfähigkeit zu sozialen Beziehungen führen. | * Freiheit von sozialen Bindungen und Ungebundenheit gegenüber anderen Menschen kann gesellschaftliches Außenseitertum bedeuten und zur Unfähigkeit zu sozialen Beziehungen führen. | ||
Zeile 223: | Zeile 228: | ||
- //Der Zirkus. 20 Holzschnitte// | - //Der Zirkus. 20 Holzschnitte// | ||
==== Franz Heinrichs ==== | ==== Franz Heinrichs ==== | ||
- | (* ca. 1879) reist von Juni 1896 bis Oktober 1898 von Münster durch Österreich, | + | (* ca. 1879) reist von Juni 1896 bis Oktober 1898 von Münster durch Österreich, |
==== Alfred Pfarre ==== | ==== Alfred Pfarre ==== | ||
Zeile 260: | Zeile 265: | ||
Seine Erinnerungen an die Walz schreibt er erst nach mehr als zwanzig Jahren aus der Erinnerung auf, sein Wandertagebuch ist teils weggeworfen, | Seine Erinnerungen an die Walz schreibt er erst nach mehr als zwanzig Jahren aus der Erinnerung auf, sein Wandertagebuch ist teils weggeworfen, | ||
---- | ---- | ||
- | **//Das Buch Wanderschaft// | + | **//Das Buch Wanderschaft// |
Winnig hat darüber hinaus etwa 30 weitere Bücher geschrieben, | Winnig hat darüber hinaus etwa 30 weitere Bücher geschrieben, | ||
Zeile 295: | Zeile 300: | ||
---- | ---- | ||
siehe auch: \\ | siehe auch: \\ | ||
- | * [[wiki:literaturliste_zur_reiseliteratur|Literaturliste zur Reiseliteratur]]\\ | + | * [[wiki:literaturliste_reiseliteratur|Literaturliste zur Reiseliteratur]]\\ |
* [[wiki: | * [[wiki: | ||
- | * [[wiki:literaturliste_zum_fussreisen|Literaturliste zum Fussreisen]]\\ | + | * [[wiki:literaturliste_fussreisen|Literaturliste zum Fussreisen]]\\ |
* [[wiki: | * [[wiki: | ||
* [[wiki: | * [[wiki: | ||
==== Stichwortverzeichnis ==== | ==== Stichwortverzeichnis ==== | ||
+ | |||
Abdecker\\ | Abdecker\\ | ||
abgebient\\ | abgebient\\ | ||
Zeile 354: | Zeile 360: | ||
Jenischen\\ | Jenischen\\ | ||
Kaff\\ | Kaff\\ | ||
- | Kalle\\ | ||
Kalle\\ | Kalle\\ | ||
Kardasch\\ | Kardasch\\ | ||
Zeile 437: | Zeile 442: | ||
Zimmerer\\ | Zimmerer\\ | ||
Zunftherberge\\ | Zunftherberge\\ | ||
+ | |||
===== Anmerkungen & Quellenangaben ===== | ===== Anmerkungen & Quellenangaben ===== | ||
wiki/walz.1631440941.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/09/12 10:02 von norbert