Von Norbert Lüdtke & Sonja Roschy, August und September 1999
Tibet ist von China arg gerupft worden. Teile des ehemals tibetischen Territoriums gehören heute zu benachbarten Provinzen. Doch bleibt die heutige autonome Provinz immer noch schwer zugänglich: Es ist geographisch schwierig, da der größte Teil Tibets ein Hochplateau bildet, das den nicht akklimatisierten Besucher oft gesundheitlich überfordert: dünne Luft, starke UV-Strahlung sowie die Hitze des Tages und bitter kalte Nächte fordern bei vielen Reisenden gesundheitlichen Tribut. Es ist formell schwierig, da die chinesische Verwaltung den Besuch Tibets durch Individualtouristen bewußt erschwert. Nicht zuletzt ist der Besuch Tibets abseits der Lhasa-Kathmandu-Magistrale auch infrastrukturell schwierig.
Die meisten Reisenden fliegen vom touristisch überlaufenen Kathmandu nach Lhasa. Dieser Einreiseweg ist daher der chinesischen Kontrolle besonders stark unterworfen. Dutzende von “tour agencies” bieten in der nepalischen Hauptstadt ihre Dienste an, denn für Individualreisende ist dieser Weg verschlossen – jeder muß sich einer Gruppe anschließen, auch wenn diese nur aus drei Personen besteht. Die tour agency besorgt ein Gruppenvisum bei der chinesischen Botschaft. Enthält der Reisepaß ein Individualvisum für China, wird dies in nahezu allen Fällen ungültig gestempelt. (Es soll Veranstalter geben, die das umgehen können, insbesondere in der Nähe von Pilgrims Bookshop im Thamel). Nach der Landung in Lhasa ist es theoretisch möglich, beim PSB (police security bureau) das Gruppenvisum in ein Individualreisevisum umzuwandeln. Das kostet in erster Linie Zeit und wird nur selten genehmigt. Die PSB-Stelle in Shigatse soll liberaler sein.
Das PSB ist Chinas Kontrollinstrument, die Beamten arbeiten meist in Zivil und sprechen fast immer englisch. Man ist ihrer Kontrolle unterworfen, auch wenn diese meist unsichtbar ist. Die typischen Touristenziele wie Lhasa, Shigatse … sind ohne Permit zugänglich, ebenso die Straße von Lhasa zur nepalischen Grenze. Wegen der schlechten Infrastruktur in Tibet ist das Verlassen dieser Hauptorte und –routen mit einem meist hohen, aber immer unberechenbaren Zeitaufwand verbunden. Wer ein Gruppenvisum hat, kann sich auf dieses Zeitrisiko kaum einlassen. Abseits dieser Flanierstrecken fallen Touristen sofort auf und die PSB-Beamten greifen sich gezielt die Touristen ohne Permit heraus. Die Anreise von Kathmandu aus mit einem Gruppenvisum ist daher nur jenen Reisenden zu empfehlen, die sich mit den Sehenswürdigkeiten um Lhasa, Shigatse und entlang des Friendship-Highways zufrieden geben. Jeder, der länger in Tibet bleiben und andere Orte besuchen möchte, sollte sich einen anderen Anreiseweg suchen.
Da Tibet von China als ein selbstverständlicher Teil des eigenen Landes begriffen wird, gibt es keine besonderen Grenzkontrollen zwischen den Provinzen. Ausländer benötigen lediglich das normale chinesische Visum sowie ein Permit des örtlichen PSB, Chinesen können sich ungehindert bewegen. Davon profitieren auch japanische Individualreisende, die wir in Tibet häufig getroffen haben – sie fallen einfach weniger auf. Die westlichen Touristen sind drei Kontrollmechanismen unterworfen:
Diesem Kontrollsystem läßt sich kaum entgehen. Folgende Anregungen können von Mal zu Mal helfen:
1. Mitfahrgelegenheiten bei Militär- oder Polizeifahrzeugen nutzen – dann fragt auch das PSB nicht mehr. 2. Privat oder in Kasernen übernachten. 3. In Hotels möglichst spät abends einchecken, nach einer Übernachtung sehr früh morgens abreisen. 4. Die Geldstrafen des PSB akzeptieren (die Höchststrafe beträgt 500 Yuan) und weiterfahren. 5. Geldspenden ohne Beleg und was die persönliche [[wiki:ehre|Ehre]] sonst so gestattet. 6. Mit sehr guten Sprachkenntnissen diskutieren und wechselnde Argumente darlegen. 7. Ein Mitreisender hat einen belegaren Status als “permanent resident”.
Alle anderen Wege und eigene Verkehrsmittel sind Individualreisenden verboten. Diese können allerdings das offizielle chinesische Reisebüro CITS (=China International Travel Service) – gibt’s in jeder größeren Stadt – mit der Organisation einer solchen Reise beauftragen. Spaßeshalber haben wir das beim CITS in Kashgar einmal angefragt: “Wir wollen zu zweit von Kashgar zum Kailash. Was würde das kosten, wenn Sie das für uns organisieren?” Da rechnete man uns vor: „3000 Yuan kostet allein das Permit für Ihre Gruppe. Dann brauchen Sie zwei Toyota Landcruiser, einer für Sie, den Fahrer und den Tourguide und einen für Treibstoff, da es auf der Strecke keine Tankstellen gibt. Pro Kilometer berechnen wir 4 Yuan pro Wagen. Die Strecke beträgt etwa 1500 km, da die Wagen zurückfahren müssen also das Doppelte. Das macht zusammen etwa 27.000 Yuan, ohne Übernachtungen und Essen.“
Wer mit dem eigenen Wagen nach China einreisen will, muß frühzeitig – etwa ein Jahr vor der Reise – CITS in Peking einschalten. Die benötigen dann einen fertigen Reiseplan mit Personalien aller Reisenden, Reiseroute und Zeitplan und beantragen die nötigen Permits und Visa. Der Fahrer des Wagens muß einen chinesischen Führerschein beantragen. Bei der Einreise wartet an der Grenze ein Begleitfahrzeug mit Fahrer und Guide, danach kann man getrost alle selbständigen Entscheidungen vergessen, Flexibilität ist unbekannt. Die organisatorischen Kosten für eine solche Tour werden leicht fünfstellig.
In Kashgar lernten wir zwei deutsche Motorradfahrer kennen. Der eine ist Redakteur der Zeitschrift „Motorrad“, der andere war's einmal und arbeitet nun bei dem Ausrüster Bernd Woick. Beide machten eine Pilotfahrt für ein deutsches Reisebüro, das alle Kosten übernahm und waren vielleicht die ersten westlichen Motorradfahrer, die aus Richtung Westen nach China einreisten. Sie bekamen ganze drei (3) Tage genehmigt, reisten am Torugartpass von Kirgisistan ein und am Khunjerabpass nach Pakistan aus, immer in Begleitung ihrer chinesischen „Offiziellen“. Sie konnten sich in Kashgar weder das Hotel aussuchen, noch Zeitpunkt oder Art ihres Abendessens, alles wurde ihnen vorgegeben. Kein schönes Reisen.
Am Kailash trafen wir einen Japaner, der mit dem “Fahrrad” von Laos eingereist war und Tibet im Zickzack durchkreuzte – sein Fahrrad hatte einen Hilfsmotor! Das PSB hatte ihn bereits fünf Mal festgenommen und die Höchststrafe von 500 Yuan verlangt. Danach durfte er weiterfahren – wohin er wollte. Er verkaufte sein Fahrrad in der Nähe des Lake Manasarovar und wollte dort nach Nepal ausreisen. Viele Studienreisegruppen dürfen dort über die Grenze, Individualreisende aber nicht. Also verließ er China bei Mitternacht über die “Grüne Grenze”. Einen Monat später trafen wir ihn erneut, diesmal in Kathmandu – alles war gutgegangen!
Zwei Deutsche brauchten sechs Monate für die Tour Iran-Turkmenistan-Usbekistan-Kirgisistan-China (Kashgar-Kailash-Lhasa) – mit dem Fahrrad! Das Fahrrad ist in China etwas so normales, daß niemand nach einem Permit dafür fragen würde. In Kashgar gibt es zahlreiche Fahrradhändler mit einem großen Angebot. Ein neues Rad mit Zehngangschaltung kostet etwa 80 DM. Wer damit bis nach Nepal kommt, kann es dort gebraucht und zum doppelten Preis verkaufen. Allerdings sind die körperlichen Anforderungen an eine Fahrradtour in Tibet extrem hoch, zudem müssen Wasser und Lebensmittel für mehrere Tage mitgeführt werden.
Wir kamen über Land aus Deutschland, hatten unseren Wagen in Kirgisistan verkauft und wollten nun mit dem Rucksack auf der „Südroute” Tibet durchqueren. Für Individualtouristen ist die Südroute verboten. Daß sie prinzipiell befahrbar ist, wußten wir aus dem Lonely Planet „Tibet“ sowie aus einigen Reiseberichten. Die Südroute beginnt rund 300 km östlich von Kashgar, in dem kleinen Städtchen Yecheng. Dort zweigt sie von der „Südlichen Seidenstraße“ ab, die entlang der geographischen Grenzlinie zwischen der Wüste Taklamakan und den Gebirgszügen im Süden verläuft. Ich sage absichtlich nicht „Himalaya“, weil dieser nur ein Teil der gigantischen Barriere zwischen dem Inneren Asiens und Asiens Süden ist. Aber das könnt Ihr Euch genauer im Atlas anschauen.
Das Zentrum Nordwestchinas ist Kashgar, die größte Oase Chinas. Nach Kashgar gelangt man a) von Kirgisistan über den Torugart-Paß (siehe Teil 1 unseres Berichtes), b) von Pakistan über den Khunjerab-Paß oder c) auf den üblichen Wegen innerhalb Chinas, also beispielsweise mit Bus oder Flugzeug von Urumchi.
Wir waren jedoch ohne eigene Verkehrsmittel und wußten bei unserer Abreise aus Kashgar nicht, wie weit wir kommen würden und was uns erwartete. Wir planten jeden Tag bis Lhasa aus dem Stegreif. Das ist interessant und spannend, aber anstrengend. Alles, was wir zunächst wußten, war: Man fährt nach Yecheng, da gibt es einen Truckstop und wenn man Glück hat, wird man für viel Geld mitgenommen. Also auf nach Yecheng.
Täglich fahren kleinere Busse (Coaster) vom Busbahnhof in Kashgar nach Yecheng, alle 1,5 Stunden ab 9 Uhr morgens, die offizielle Fahrzeit von 4,5 Stunden wird ziemlich gut eingehalten, Fahrtkosten 29 Yuan pro Person. Um 15 Uhr sind wir dort. Das uns empfohlene Guesthouse weist uns ab und das einzige Hotel, das Touristen aufnehmen darf, scheint das „Mountaineering Hotel“ zu sein. Ein grosses, schmiedeeisernes Tor führt auf einen grosszügigen Vorplatz, die Fassade ist neu und sauber mit weissen Fliesen verkleidet, blaues Glas lässt keinen Einblick zu. Die Rezeption kommt schon ein wenig kleiner und schmuddeliger daher, zu den Fluren geht's hoch, die Wohnqualität sinkt. Der Blick ins Bad wirkt, als schauten wir durch einen Gullydeckel in die Kanalisation: es ist dunkel, die Wände glitzern feucht, es riecht modrig, verrostete Leitungen sind auf grobem Zement verlegt und tropfen, der Abfluss unterm Becken führt ohne Syphon geradewegs in den Kanal, das Klo wackelt bedenklich (es steht lose auf dem grob gefliesten Boden), daneben traut sich ein Duschkopf aus der Wand, eine Duschtasse gibt es ebenso wenig wie einen Vorhang, das Wasser plätschert weit und breit auf Boden, Becken, Klo und fliesst in einer Ecke ab (hoffentlich). Dieser Luxus soll uns 180 Yuan kosten, mühsam können wir das auf 100 Yuan herunterhandeln, unter anderem auch deswegen, weil unser Gepäck noch draussen in der Fahrradrikscha auf uns wartet. Man weiss aber sehr genau, dass wir keine andere Wahl haben.
Dafür ist der Basar von Yecheng wunderschön, zwar kleiner als der Kashgars, aber er wirkt unberührter und ursprünglicher und scheint seit langer Zeit unverändert um die Moschee herum zu gedeihen. Touristen gibt es kaum. Wer hier bleibt, will nach Tibet, Durchreisende nach Khotan haben keinen Grund zu verweilen. In einem kleinen verräucherten Restaurant essen wir Nudeln und schon die Zubereitung ist für uns sehenswert: Aus einem Teigkloss zieht die Köchin mit Daumen und Zeigefinger makaronidicke Fäden (ähnlich wie eine Spinnerin Fäden aus der Wolle zieht). Die nimmt sie dann auf wie Wollfäden, also über beide Hände und lässt sie zwischen den ausgestreckten Armen rotieren. Dabei werden die Teigfäden länger und dünner. Fertig ist die Portion Nudeln (die dann aus eigentlich aus einer einzigen, viele Meter langen Nudel besteht), sie gart dann noch kurz in einer Brühe.
Im Bewusstsein, etwas Illegales zu unternehmen, verraten wir natürlich niemandem unser Ziel und suchen mühsam die südlich verlaufende Ausfallstraße aus der Stadt Richtung Tibet, nach Ali. Doch die zweigt erst fünf Kilometer weiter von der Hauptstraße nach Khotan ab. Den Rikschafahrer weisen wir mit Handbewegungen in unsere Richtung, sagen „woa gong li“ (fünf Kilometer), fragen „do schau tien“ (Wieviel?) und los geht's.
Die Abzweigung ist sehr belebt, Dutzende kleiner Stände mit Ess- und Trinkbarem, Tankstelle, Werkstätten – eben alles, was Truckfahrer so brauchen. Doch wie erkennt man einen Truck, der nach Tibet fährt? Wenn sie von dort stammen, werden sie wohl andere Kennzeichen haben und so sprechen wir erst einmal die Trucks mit einem „F“ im Kennzeichen an. Die Methode stimmt wohl, dennoch schlagen die ersten Versuche fehl – vermutlich gibt's zu viele unerwünschte Zuhörer.
Andererseits war bisher unsere Vorsicht unnötig: Es gab keinen Checkpoint und die Uniformierten haben uns alle ignoriert. Dann finden wir das Guesthouse der Truckfahrer: An der Kreuzung rechts abzweigend, bei Kilometer 2, gibt's ein großes Schild mit einem dicken roten Pfeil nach rechts, hinein in ein schmales Strässchen, das von Pappeln gesäumt ist. Nach 100 Metern ist links eine Art „Bungalow-Hotel“, mit freistehenden Häuschen, 2 kleinen Shops, einem Restaurant und einer Werkstatt. Hier übernachten die Fahrer, bevor sie nach Ali aufbrechen. Und hier finden auch wir ein Zimmer für 20 Yuan – obwohl die Betreiber sicher keine Konzession für Touristen haben!
Hier findet man nicht jeden Tag eine Mitfahrgelegenheit, manchmal fahren aber auch zwei, drei, vier Wagen an einem Tag los. Die Fahrt wird wohl nie komfortabel sein, doch ein Blick auf das Fahrzeug lohnt sich: Sind die Reifen OK? Profil ist nicht das Wichtigste, aber wenn sich bereits die Lauffläche löst, ist die erste Panne absehbar. Biegen sich die Federn des beladenen Wagens nach unten durch? Dies deutet auf eine bald bevorstehende Zwangspause wegen Federbruchs hin.
Auf einen vertrauenswürdigen, leicht beladenen Wagen zu warten, kann sich lohnen. Die Fahrer behaupten, etwa drei Tage für die etwa 1000 km nach Ali zu benötigen. Das bleibt meist Wunschdenken: fünf Tage sind schnell, sieben normal, auch zehn Tage sind möglich. Die Preise für die Fahrt liegen zwischen 400 und 600 Yuan, Übernachtung und Essen zahlt jeder aus seiner eigenen Tasche. Zum Verhandeln gehört, daß die Zahlung erst in Ali erfolgt – Kompromiß: die Hälfte des Fahrpreises auf der halben Strecke, etwa in Mazar. Passagiere werden ins Führerhaus gepfercht, wir saßen dort zeitweise mit bis zu sieben Personen.
Bei km 10 auf der Strasse nach Ali sollen wir uns ducken, dort sei manchmal ein Checkpoint aufgebaut, aber heute ist alles leer. Bei km 50 endet die Asphaltstrasse, wir werden sie erst in einigen Wochen wiedersehen. Bei km 60 bietet ein Dorf letzte Versorgungsmöglichkeiten, einige kleine Shops und Restaurants. Dann führt die Piste lange und steil hinauf zum ersten Pass. Dort haben wir eine grandiose Aussicht auf ein Meer von Bergen, hinter uns liegt die Wüste und an deren grünem Rand Yecheng. Die Strasse wird enorm schlecht und soll noch vor zwei Wochen durch heftige Regenfälle unpassierbar gewesen sein. Dort, wo die Regenwasserströme nicht gewütet haben, fahren wir auf guter Macadamiastrasse. Bei km 160 bietet ein kleines Dorf zwei sehr kleine Garküchen, in denen wir nach kurzer Diskussion auch Nudelsuppen zu essen bekommen.
Bei km 210 der 2. Pass, die Regenschäden nehmen ab, dafür erwartet uns ausgeprägtes Wellblech, das die Strassen auch in den nächsten Tagen prägen wird. Nun ist es eher flach, wir scheinen auf einer Hochebene zu sein und fahren lange einen Fluss entlang. Siedlungen gibt’s kaum, Menschen fallen in dieser Einsamkeit sofort auf. Bei km 240 stossen wir abends auf eine breite Strasse: links geht es nach Ali, rechts nach dem nur wenige Kilometer entfernten Mazar. Bei km 390 halten wir nachts um 24 Uhr an einer Ruine, der Fahrer ist völlig übermüdet. Doch ein barackenförmiger Anbau der Ruine ist teilbewohnt, es gibt sogar Nudeln in einer Brühe. Es ist eisig kalt, im September friert es nachts, manchmal fällt Schnee. Bergstiefel, Sonnenbrille, Mütze, Handschuhe und warme Kleidung für mehrere Schichten kann überlebensnotwendig werden, beispielsweise für Nachtfahrten auf der offenen Ladefläche eines Lkw.
Bei km 440 durchqueren wir ein Militärlager (für uns interessiert sich niemand, obwohl wir illegal hier sind!), der Fahrer kauft Benzin aus 60-Liter-Fässern von Soldaten und saut beim Tanken mächtig rum: Eine halbierte Plastik-Wasserflasche steckt im Tankstutzen, zwei Leute kippen das Fass und versuchen die kleine Öffnung zu treffen. Wenige Kilometern hinter dem Militärlager bleibt der Wagen an einer Steigung stehen, vermutlich ist Wasser oder Dreck aus dem Tankvorgang schuld. Benzinpumpe, -filter, - leitungen und Luftfilter werden zweimal auseinandergenommen und gereinigt, dann läuft der Motor wieder.
Die Fahrt ist anstrengend, das Wellblech zehrt an den Nerven und der Fahrer wechselt kaum einmal aus dem zweiten Gang. Im Wagen ist es eng, die Federung ist schlecht, das Dach ächzt bedenklich unter der Last des Gepäcks. Nach dem 3. Pass seit Yecheng befahren wir eine trockene Hochebene, kein Fluss weit und breit. Bäume sind nicht zu sehen, dafür finden sich saharaähnliche Regionen mit Dünen, deren Sand aus den zentralasiatischen Wüsten angeweht wird.
Am frühen Nachmittag verliert ein Reifen Luft und wir halten wieder an teils halb, teils ganz zerfallenen Gebäuden, doch manche sind bewohnt. Wer sich auskennt, findet hier eine Kleinigkeit zu essen und eine spartanische Unterkunft. In erster Linie suchen allerdings Soldaten nach Gelegenheiten, inmitten des Nichts ihren spärlichen Sold auszugeben. Wir hatten Proviant für etwa 8 Tage dabei, das scheint mir auch das Minimum zu sein. Es gibt unterwegs lange wasserlose Strecken und bei einer Panne muß man sich gegebenenfalls mehrere Tage selbst versorgen können.
Draussen ist mittlerweile der Reifen gewechselt, der Schlauch hat ein Loch, doch ans Reparieren denkt niemand. Ein zweiter Reifen zeigt seitlich ein dickes Ei, die Gummischicht löst sich von der Karkasse, doch keinen stört's, es hält ja noch. Zu viert übernachten wir im Wagen, das ist eng und nicht lustig, aber eben auch nicht so kalt.
Anderntags warten wir auf einen Lastwagen, der den gestern gewechselten Reifen aufpumpen kann, der platte Ersatzreifen kommt aufs Dach. Wir surfen auf dem Wellblech durch eine wüstenähnliche Landschaft, der Boden ist staubig, sandig und salzig, einige Wasserlaachen zeigen dicke weiße Ränder, trinken kann man das nicht. Ausser ein paar dürren Gräsern wächst nichts. Seit gestern haben wir nun unsere Reisehöhe von mindestens 4800 Metern erreicht und befinden uns auf dem tibetischen Hochplateau. Wer hier höhenkrank wird, hat Pech. Hospitäler gibt es nicht, der Weg zurück dauert Tage, der Weg nach vorne Wochen. Ein Notfallmedikament gegen Höhenkrankheit kann wichtig werden. Einheimische empfehlen Knoblauch und Zwiebeln gegen Höhenkrankheit, ein deutscher Internist empfahl viel Aspirin als Mittel zur Ersten Hilfe.
Der ärgste Abschnitt führt 150 Kilometer auf über 5200 Meter Höhe, meist sandige Piste. Zwei Mal trafen wir europäische Radfahrer – für die ist das besonders schlimm und im Sand schieben sie die schwer bepackten Räder oft kilometerweit. Unsere Fahrt jedenfalls dauert heut' nicht lange, dann knallt's, den Reifen mit dem Ei hat's nun zerrissen und wir sitzen mitten in der staubtrockenen Hochebene, über die nachts ein eisiger Wind heult. Reparaturmaterial haben wir nicht und für die Verkehrsstatistik der letzten zwei Tage genügen die Finger einer Hand. Also heisst es improvisieren, vielleicht können wir den Ersatzreifen mit dem Fahrradflickzeug wieder flottmachen.
Zwei Stunden arbeiten wir keuchend, dann ist der Mantel von der Felge, der Schlauch draussen. Nun aber entschliesst sich unser Fahrer anders und fährt mit dem zerrissenen Reifen die zehn Kilomter zum letzten Militärlager zurück. Es begrüssen uns wütende Hunde und geldgierige Soldaten. Unser Fahrer erhält ein Zimmer, für uns ist angeblich keins mehr frei, doch schliesslich gewährt uns unser Fahrer Unterschlupf für die Nacht. Wir teilen uns ein Bett, das kostet dann immer noch 30 Yuan. Nachts verlasse ich das Zimmer, die volle Blase treibt mich raus, doch komme ich nicht weit: Kaum habe ich die Aussentür geöffnet, schießen kläffende Hunde auf mich los. Wieder ist Kreativität gefragt.
Am nächsten Morgen beschließt der Fahrer aufzugeben. Wir zahlen die Hälfte des vereinbarten Fahrpreises und müssen uns nun eine andere Mitfahrgelegenheit suchen. Also legen wir uns an den Strassenrand der zwei Kilometer entfernten Hauptstrasse. Der Boden ist eisig, von oben brennt die Sonne. Nach 3 Stunden kommt der erste Truck, ein zweiter gleich dahinter. Die beiden gehören zusammen und sind bereit, uns mitzunehmen, 150 Yuan pro Person. Gegen Abend erreichen wir wieder einen Pass, über 5600 Meter hoch, kurz darauf einen kleinen See mit Barackensiedlung und Garküche. Nach dem Abendessen geht es weiter, die Trucks kommen von Khotan und fahren ohne Pause Tag und Nacht durch.
Diesmal nicht. Mitten in der Nacht bleiben wir stecken. Hinter einem Pass, auf einem ausgedehnten lehmigen Quellhang. Der zweite Truck will's besser machen – und bleibt ebenfalls stecken. Langsam sackt unser Truck rechts immer tiefer ein. Bei fast 45 Grad Schräglage frieren wir auf der Rückbank, draussen vereisen die Pfützen, der Regen geht langsam in Schnee über. Die warmen Sachen sind in den Rucksäcken auf der Ladefläche. Doch die Seile sind eisüberzogen und nur schwer mit klammen Fingern zu lösen. Mit der einzigen verfügbaren Schaufel versuchen draußen die Besatzungen der beiden Lkws die 20-Tonner freizubekommen. Das führt irgendwann gegen Morgen beim ersten Wagen zum Erfolg. Der zweite Lkw wird abgeladen, freigeschaufelt, rausgezogen und wieder aufgeladen. Das kostet noch einen Tag.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit fahren wir wieder los. Gegen Ende der Nacht passieren wir Rutok, einen Ort mit bedeutendem Checkpoint. Wir halten, sollen uns ruhig verhalten, der Fahrer zeigt seine Papiere – doch nach uns fragt wieder niemand. Natürlich sind wir froh, aber ein wenig enttäuschend ist es doch, daß illegales Reisen so einfach ist.
Morgens sehen wir in der Ferne die ersten Zelte tibetischer Nomaden. Es gibt wieder Flüsse, die Berge rücken enger zusammen. Mittags erreichen wir Ali. Kurz vor der Stadt quetschen wir uns zu fünft auf die Rückbank und ziehen die Vorhänge zu. Auf einer links abzweigenden, fast unpassierbar erscheinenden Sandpiste verlassen wir die Haupteinfallstrasse und fahren auf einer Nebenstrasse in die Stadt ein. An der Brücke halten wir vor einem Gemüseladen. Man holt uns ein Taxi, verstaut unser Gepäck und weist den Taxifahrer an, uns im Hinterhof eines Guesthouses abzusetzen. Die Geschichte scheint nun doch eine kritische Phase erreicht zu haben, denn ausser dem Fahrer sind alle anderen Mitfahrer aus beiden Trucks plötzlich verschwunden.
Ali ist recht klein und so erreichen wir unser Ziel schon nach wenigen Minuten. Dieses Guesthouse bildet einen weiteren Abstieg auf der nach unten offenen Trotter-Skala, ist aber noch um ein Geringes besser als das „Ali-Guesthouse“, dem der Lonely Planet eine entsetzte halbe Seite widmet. Unser Guesthouse ist Tag und Nacht zugänglich über ein grosses, stets offenes Tor, doch wehrt vielleicht der ausströmende Gestank manch einen Besucher ab. Im Erdgeschoss liegt Müll, eine etwa 4 m breite Wendeltreppe führt in den ersten Stock, die nassen und berotzten Stufen sind glitschig. Nackter, schmuddeliger Beton lässt Flure, Säulen, Wände abweisend erscheinen, keine Information, geschweige denn Dekoration ist zu sehen. Die chinesische Concierge bewohnt ein kleines Zimmerchen, das nur durch Zufall zu finden ist. Ein anderer Reisender erzählte uns später: „Ich kam nachts in Ali an, gegen 22 Uhr und wurde in dieses Guesthouse geschickt. Ich verliess es wieder, überzeugt, dass das Gebäude seit langem unbewohnt sei.“
In unserem Zimmer stehen drei Betten, die Bettwäsche ist glattgezogen, aber erkennbar schon lange nicht mehr gewechselt. Strom gibt es nur abends drei Stunden. Mangels Mülleimer liegen Abfälle in der Ecke. Ein Badezimmer gibt es im ganzen Haus nicht, fliessendes Wasser erhält man zu gewissen (uns unbekannten) Stunden aus einem Wasserhahn am Strassenrand. Das erkennt man dann an der sich dort bildenden Schlange und der Vielzahl von Eimern und Schüsseln. Auch eine Toilette findet sich nur außer Haus. Erfreut nutzen wir in der Nacht den „Pisspott“. So vermeiden wir es, nachts über dunkle Flure in die kalte, hundebeherrschte Nacht hinauszulaufen und die gleichfalls unbeleuchtete öffentliche Toilette aufzusuchen, deren Boden reichlich Spuren anderer tastend Suchender aufweist. Dafür gibt's dann den „Anschiss“ am nächsten Tag, der „Pisspott“ sei nur zum Spucken, nicht zum Pinkeln da!
Aber zurück in den hellen Tag und zu den angenehmen Erlebnissen. Nachmittags suchten wir das „Public Security Bureau“ auf, PSB, wie es die Traveller überall in China liebevoll nennen. Doch hier machen wir tatsächlich erfreuliche Erfahrungen, die beiden Uniformierten, er und sie, beide sehr freundlich, sprechen fliessend englisch und drücken uns Formulare in die Hand, ohne viel zu fragen. Die füllen wir in einem hübsch chinesisch dekorierten Informationsraum aus, überall liegen Broschüren (z.B. über Ökologie in China …) in deutsch, englisch, französisch. Schliesslich müssen wir einen chinesischen Text unterschreiben, dann klärt uns der Offizier auf: Wie wir sicher wüssten, wären wir illegal in diesem Teil Chinas. Nun würde aber die Verwaltung ein Auge zudrücken, nachdem wir bereits viel Geld für die Fahrt hierher ausgegeben hätten. Allerdings wäre eine Buße in Höhe von 300 Yuan pro Person zu bezahlen. Aber auch das sei moderat, es gäbe schliesslich Bußen bis zu 500 Yuan. Nachdem wir die Buße bezahlt hätten, könnten wir nachträglich ein Permit für den Bezirk Ali erlangen. Das koste dann noch einmal 50 Yuan und gälte bis nach Shigatse einschliesslich Kailash. Nachdem wir bezahlt hatten, erhielten wir ein hübsches Permit (das niemals jemand sehen wollte) und wurden freundlich entlassen. Wir waren legal in Tibet!
Bei der konkreten und detaillierten Reiseplanung für die Südroute waren alle Quellen kaum brauchbar, zu vieles bleibt unklar oder wird verschwiegen. Das in Deutschland erhältliche Kartenmaterial für das tibetische Hochland kann man fürs Lagerfeuer verwenden. Fünf Pässe über 5000 m gibt es zwischen Yecheng und Ali – kein einziger war auf unserer Karte eingezeichnet. Das beste Kartenmaterial enthalten japanische Reiseführer – da gibt’s natürlich ein Leseproblem. Dort finden sich Pässe, kleinste Siedlungen, Flüsse, Berge, Entfernungen … zuhauf und wirklichkeitsgetreu!
Teil 1 siehe Trotter 93, S.52-58: Mit dem Escort bis zur chinesischen Grenze Teil 2 siehe Trotter 94, S. 68-75: Eine literarische Reise ins Innere Asiens (Hinweis zu den Preisangaben: 4,40 Yuan=1 DM)
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