Pufendorf, Samuel von
Einleitung zur Sitten- und Staats-Lehre.
Leipzig, 1691, S. 246
Diese Singularität im Raum-Zeit-Kontinuum ist unendlich lang und dauert ewig. Außerdem ist man immer der Letzte. Eine Warteschlange entsteht zwar primär durch Mangel und Bedürfnisse, verlängert sich aber durch Täuschungen und Illusionen. Das begünstigt die Suche nach Alternativen im Sinne allgemein akzeptierter Priorisierungen etwa nach Alter oder Notlage oder versteckter im Sinne von Korruption.
Mangelt es an vielem, stellt man sich besser an jeder Schlange an, ganz gleich, worum es geht. Da das vordere Ende der Schlange oft nicht zu sehen ist, kann es aber ein kolossaler Fehler sein, sich anzustellen, wie es alle tun, weil das Verhalten durch Annahmen gesteuert wird. Zu zweit lässt sich das Problem leicht lösen: einer stellt sich an, der andere macht sich vorne zwar schlau, aber auch unbeliebt bei allen, die er hinter sich lässt. Vorn angekommen zeigt sich aber oft, dass es eine andere Möglichkeit gibt oder dass Anstehen in keinem Fall zum gewünschten Ergebnis führen würde. Außerdem begünstigt solches Verhalten eine Lösung durch serendipity.
Im europäischen Raum gilt: »Wer eher kommet,der mahlet eher.« 1). Dasselbe Verständnis klingt auch durch im Englischen (First come, first served), im Französischen (Le premier venu engrène) oder Italienischen (Chi è primo al mulino primo macina); findet sich im übertragenen Sinne als »Welcher Wagen zuerst zur Brücke kommt, der darf zuerst überfahren« um 1275 im Schwabenspiegel und stammt letztlich als Prioritätsgrundsatz aus dem römischen Recht »prior tempore potior iure« 2). Dennoch gibt es gewisse kulturelle Unterschiede zwischen dem Anstehen an einer britischen Bushaltstelle und einem indischen Bahnhof, bei denen Körperfülle, Lautstärke, Blickkontakte und eine handvoll Geldscheine das Normverhalten beeinflussen können.
Vladimir Sorokin
widmete seinen ersten Roman Die Schlange 3) der Alltagserfahrung der Sowjetbürger, die damals statistisch ein Drittel ihres Lebens in Warteschlangen verbrachten. Er beschreibt, wie der Alltag ins Absurde abrutscht, wie Bosheit und Niedertracht Entsetzen auslösen, aber auch Frechheit, Humor und Kreativität.
Der Markt mag zu Warteschlangen führen, aber in einer Warteschlangen-Gesellschaft wird damit auch Macht ausgeübt, im Großen wie im Kleinen. Offensichtliches »queue jumping« ist Ausdruck respektlosen Verhaltens gegenüber Autoritäten und wird sanktioniert. Das hat schon Kurt Tucholsky
(1890 - 1935) bemerkt als er meinte: Der Traum eines Deutschen sei es, hinter einem Schalter zu sitzen; doch sein Schicksal sei es, davor zu stehen.
Juristisch-ökonomisch-soziale Untersuchungen:
Katherine G. Young
Rights and Queues: On Distributive Contests in the Modern State
Columbia Journal of Transnational Law, Bd. 55, Heft 1, 2016
David Fagundes
The Social Norms of Waiting in Line
Law & Social Inquiry, Bd. 42, Heft 4, 2017
Pufendorf, Samuel von
Nils Uwe Borchert