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wiki:gast

Gast

Medea: Töten willst du, den Fremden, den Gast?
Aietes: Gast?
Hab' ich ihn geladen in mein Haus?
Ihm beim Eintritt Brot und Salz gereicht
Und geheißen sitzen auf meinem Stuhl?
Ich hab' ihm nicht Gastrecht geboten,
Er nahm sich's, büß' er's der Tor!
Franz Grillparzer
Teil der Trilogie »Das goldene Vlies« (1821): Der Gastfreund, Die Argonauten, Medea

Der Fremde, der mit einem Geschenk in eine Gemeinschaft eintritt, wird bei vielen Völkern mißtrauisch betrachtet, denn weit verbreitet ist die Haltung, daß ein Geschenk durch ein Gegengeschenk beantwortet werden muß 1). Das passende Gegengeschenk für einen Fremden wäre dann die Gastfreundschaft. Doch will man den Fremden als Gast aufnehmen? Die Institution der Herberge umgeht das Problem, indem der Gast zum Kunden wird.

Das hebräische Wort für Gast setzt sich zusammen aus gèr, Fremder, und tosàb, Einheimischer, und zeigt an, daß dem Gast eine Stellung zwischen beiden zukommt. Zwischen Gast und Feind finden sich die ursprünglichen Begriffe im Griechischen, Lateinischen, Deutschen, Englischen. Das lateinische Wort hostis, der Feind, und das deutsche Wort Gast entstanden aus derelben Sprachwurzel. Als Gast bezeichnete man noch bis zum Ende des Mittelalters den reisenden Krieger; im Englischen bezeichnet host noch heute den Hausherrn ebenso wie die Heerschar oder die Hostie 2).

Der ältere Grundsatz, den Fremden als Feind zu betrachten und zu behandeln, wurde geschichtlich erst im Nachhinein durch das Gastrecht gemildert. Das Gastrecht erwächst aus der persönlichen Begegnung und gilt begrenzt für Zelt, Haus, Wohnplatz. Der Gastgeber kann Gastrecht befristet gewähren, doch ist der Fremde kein Gastnehmer, der Anspruch auf Gastrecht hat. Es wird schließlich symbolisch bekräftigt: mit Brot und Salz, einem Geschenk, mit Handschlag und einer Aufforderung, etwa »über die Schwelle« zu treten. Die Schwelle symbolisiert einen Übergang: dort ändern sich Rechte; dafür sind Schutzgottheiten zuständig.

Für den Zwischenraum entstand in mittelalterlicher Zeit das Geleitswesen aus öströmischen Wurzeln und nach Entstehung der Nationalstaaten der Reisepass, schließlich wurden auch Versicherungen angeboten.

Gast kann nur werden, der zu gehen beabsichtigt. Viele Sprichwörter formulieren überlieferte und bewährte Verhaltensnormen:

Bewirte deine Gäste, aber behalte sie nicht! (chines.)
Auch des liebsten Gastes ist man in drei Tagen satt. (jugosl.)
Der Gast und der Fisch sind nach drei Tagen anrüchig. (span.)

Dahinter »stehen Hypothesen über zufriedenstellendes Zusammenleben einer Gemeinschaft, die sich als »Angewandte Lebenserfahrung« interpretieren lassen … bedeutsam [ist], daß der Sachverhalt vom Volksmund akzeptiert und für wichtig genug gehalten wurde, tradiert zu werden« 3). Keinesfalls und nirgends ist das Gastrecht von Dauer. Der Gast fällt, sobald die Gastfreundschaft beendet ist, in den Zustand des ungeschützten Fremden, des Eindringlings oder gar des Feindes zurück.

Migranten sind keine Gäste. Die italienische Philosophin denkt über die Stellung des „Ansässigen Fremden“ in unserer Gesellschaft nach, vor dem Hintergrund von Staatsgewalt, Territorium und Souveränität.

  • Cesare, Donatella di
    Philosophie der Migration.
    Aus dem Italienischen von Daniel Creutz. 343 S. Berlin 2021: Matthes & Seitz

Literatur

  • Hans-Dieter Bahr
    Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik.
    Reclam Leipzig 1994
  • Bolchazy, Ladislaus
    From Xenophobia to Altruism : Homeric and Roman Hospitality.
    The Ancient World, 1.1 (1978) 45-64.
  • Berger, Jutta Maria
    Die Geschichte der Gastfreundschaft im hochmittelalterlichen Mönchtum.
    Die Cistercienser.
    Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1996/97. 428 S. Berlin Akad.-Verl. 1999
  • Derrida, Jacques
    Von der Gastfreundschaft
    156 S., Aus dem Französischen von Martin Sedlaczek, Wien

2001: Passagen.

  • Friese, Heidrun
    The Limits of Hospitality
    Political Philosophy, Undocumented Migration and the Local Arena.
    European Journal of Social Theory. 13.3 (2010) 323-341.
  • Hellmuth, L.
    Gastfreundschaft und Gastrecht bei den Germanen
    382 S., Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften, 1984
  • Hiltbrunner, Otto
    Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum
    392 S., Darmstadt WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012
  • Jezierski, Wojtek
    Convivium in terra horroris: Helmold of Bosau’s Rituals of Hostipitality.
    S. 139–174 in: Wojtek Jezierski, Lars Hermanson, Hans Jacob Orning and Thomas Småberg (Hg.): Rituals, Performatives, and Political Order in Northern Europe, c. 650–1350. Turnhout 2015: Brepols
  • Gerhard Kurz
    Sind Fragen nach der Herkunft ausgrenzend?
    FAZ 02.12.2020
    Reflexion über die erste Frage beim Begegnen zweier Menschen an Beispielen: »von wannen kommst du und welche Leiden littest du?« fragte der Schweinehirt Eumäos den heimkehrenden Odysseus (Homer) und so fragte auch Iphigenie den Pylades (Goethe) und so fragt auch der kleine Prinz (Saint Exupéry). Und der aufklärerische, vernünftige Voltaire fragt nach dem Sinn: »Wer bist Du? Woher kommst Du? Wohin wirdst du gehen?« 4)
  • Loycke, Almut
    Der Gast, der bleibt : Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins.
    Frankfurt a. Main 1992: Campus
  • Sari Nauman, Wojtek Jezierski, Christina Reimann, Leif Runefelt (Hg.)
    Baltic Hospitality from the Middle Ages to the Twentieth Century Receiving Strangers in Northeastern Europe.
    XIV, 394 S. Cham 2022: Springer Nature. Online
  • Olsson, S.
    The Hostages of the Northmen
    From the Viking Age to the Middle Ages.
    Stockholm 2019: Stockholm University Press. DOI: https://doi.org/10.16993/bba
  • Hugo Oschinsky
    Der Ritter unterwegs und die Pflege der Gastfreundschaft im alten Frankreich.
    Inaugural-Dissertation Halle an der Saale 85 S. Berlin 1900: R. Gaertner
  • Peyer, Hans Conrad, Elisabeth Müller-Luckner
    Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter .
    München 1983: R. Oldenbourg. 275 S. Kolloquium 27. bis 30. Jan. 1982 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
  • Peyer, Hans Conrad
    Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus.
    Studien zur Gastlichkeit im Mittelalter
    (=Monumenta Germaniae Historica 31) Hannover 1987
  • Rudorff, H.
    Zur Rechtsstellung der Gäste im mittelalterlichen städtischen Prozess
    Diss. Berlin 1906, Breslau Marcus 1907
  • Schultze, A.
    Gästerecht und Gästegerichte in deutschen Städten des Mittelalters.
    HZ Historische Zeitschrift 101 (1908) 473-528
  • Stein-Hölkeskamp, E.
    Das römische Gastmahl
    364 S., München: Beck 2010/ 2005
1)
J. Makarewicz
Einführung in die Philosophie des Strafrechts a.a.O. Seite 284
2)
germ. *gasti-, *gastiz; idg. *ghostis »dasz hostis, gast urspr. der fremde ist, der nach der sitte, die noch in sagen nachklingt, als feind den göttern geopfert, zugleich aber, wie jedes blutige opfer, von den opfernden als frommes mahl verzehrt wurde als hostia humana, und der anklang von hostis und hostia kann diese annahme wol stützen« [Grimms Wörterbuch]
3)
Siegfried Müller: Können Sprichwörter bei der Entwicklung psychologischer Theorien helfen? In: Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie. 29 (1998) Heft 1. [http://psychologie.fernuni-hagen.de/Psychologie/SOZPSYCH/GD/Artikel/Mueller.html]
4)
Voltaire: Mélanges. Texte etabli et annote par Jacques van den Heuvel. Paris: Gallimard, 1961. Anm. 5, 877
wiki/gast.txt · Zuletzt geändert: 2024/10/04 04:33 von norbert

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