Inhaltsverzeichnis
Zwischenraum
siehe auch die Liste der Raumvorstellungen
Unterwegs: Drinnen und Draußen
Im Unterwegs-sein ist die Schwelle der kleinstmögliche Zwischenraum. Statisch wirkt er als Raum zwischen Drinnen und Draußen sowohl verbindend als auch trennend, scheidet Vertrautes von Anderem, oft Fremdem. Dynamisch wird er beim Übergang zum Aufbruch, weil er als solcher mit dem Hier und Jetzt mit dem Vergangenem bricht und den Möglichkeitsraum des Künftigen öffnet. Eine Welt zerbricht - wie die neue Welt aussehen wird, ist nicht klar. Zwischenraum ist nur erfahrbar durch Aufbruch und Übergang, also als Gang, Fahrt, Reise.
Ursprünglich bezeichnet `Raum´ die gerodete Fläche im Wald, die frei`geräumt´ wurde . Mit dem Räumen dieser Fläche entstanden Freiheiten mit neuen Rechten; der Zaun macht daraus `befriedetes Land´. Diese Zone zwischen drinnen und draußen schützte als Zwischenraum nach innen, barg jedoch bereits die Gefahren von außen, denn der befriedete Raum war von Wildnis umgeben, dort drohten Gefahren. Die Wildnis zwischen den befriedeten Räumen war Niemandsland, terrae nullius. Die befriedeten Inseln in der Wildnis verdrängten diese im Laufe der Zeit, so daß befriedete Räume zunehmend und Wildnis abnehmend zu Inseln im Zwischenraum wurden, wobei sich der Zwischenraum zur noch nicht kultivierten Landschaft wandelte. Dabei ist der für das Unterwegs-sein sinngebende und erfahrbare Unterschied zwischen Raum und Zwischenraum verloren gegangen, also haben Schwelle, 1) ihre Bedeutung verloren.
Umgangssprachlich meint `Raum´ das freie Nichts zwischen den ihn begrenzenden Dingen. Zwischenraum wird prinzipiell ebenso beschrieben, verengt jedoch die Sichtweise auf den Abstand zweier 2) Dinge: eine Fuge, ein Spalt, eine Leerstelle sowie zwei Ränder 3). Zwischenraum ist das nicht fassbare `Andere´ zwischen zwei greifbaren Dingen 4). Das englische gap (ebenso schwedisch, dänisch `Mund, Loch´) weist durch seine Herkunft darauf hin, denn das altnordische gap ginnunga `unüberwindbare Kluft, gähnender Abgrund´ bezeichnet in der Edda den schrecklichen leeren Raum (mit dem Schrecken des Nichts, lat. horror vacui) vor der Schöpfung zwischen dem feurigen Muspellsheim im Süden und dem eisigen Niflheim im Norden 5). Daher ist der Zwischenraum eben keine Grenze im Sinne einer gedachten Linie; das schweizerische witi 6) speichert die volkssprachliche Bezeichnung für den Zwischenraum, althochdeutsch: wituobele `weiter Raum´, witofili `Zwischenraum´ 7).
Der Zwischenraum erzeugt zweifach Angst vor dem ungewissen Dahinter: zum einen die Furcht vor dem, was aus dem Zwischenraum kommt und zum anderen die Furcht, sich selbst hinauszuwagen. Solche „Grenzgänger“ zwischen den Welten werden misstrauisch beäugt: zum einen der Außenseiter oder die Zaunreiterin (hagazussa, Hexe), die sich hinauswagen, zum anderen das Fahrende Volk oder unbekannte Fremde (hostis): Gast oder Feind?
Den Aufbruch begleiten seit je mehr oder weniger abergläubische Riten: man macht ein Kreuzzeichen, nutzt Weihwasser, wirft Salz über die Schulter, kauft einen Reiseführer oder nimmt einen guide. Beim Überschreiten der Schwelle werden Schutzgottheiten (liminal deities) angerufen, ein Amulett oder die Christophorusplakette eingepackt, eine Versicherung abgeschlossen.
Draußen unterwegs hilft eine mentale Karte sich zu orientieren. Diese entsteht, wenn Landmarken (Alte Bäume, Quellen, Höhlen, Felsformationen usw.) durch bemerkenswerte Erzählungen verknüpft werden und damit zu „heiligen Orten“ werden können. Nun haben Archäologen eine Methode entwickelt, solche heiligen Orte zu identifizieren. Zugrunde liegt die Annahme, dass die zahlreichen Depot- oder Hortfunde von Wertgegenständen an solchen Orten niedergelegt wurden, entweder profan als Hort oder sakral als Opfer. Weil diese Orte durch Wege verbunden gewesen sen müssen, lässt sich daraus eine Karte ableiten 8).
Von Raum zu Raum: Zwischenraum und Übergang
Raum | Heim | Ort | Bann | Zwischenraum | Wildnis | Imaginiertes |
---|---|---|---|---|---|---|
Konstrukt | Haus Hof | Siedlung | Wald Flur Wiese | Landschaft | Spur | Paradies Purgatorium |
Orientierung | Gasse Bahn | Pfad | Wege | Fährte | Glaube | |
Übergang | Schwelle Tür | Zaun Tor Garten | Hecke Mannhagen | Wegesrand Waldrand Kreuzung Furt, Pass | Leben/Tod | Phantasie Angst |
Merkmal | Blut Inschrift | Kreuz | weißer Stein | Bildstöcke Gräber | Gebetsfahne Steinmann | Opfer |
Wir & Andere | Familie | Nachbar-schaft | Jäger Sammler Hirt, Bauer | Außenseiter Kundige ehrlose Berufe | Waldläufer Wilder Mann | Künstler |
Einzelne | Ich | Narr | Kräuterweib Schamane | Schmied Seherin | Outlaw Eremit | Wilder Jäger Wandermönch |
Unterwegs-sein | Gang (ins Freie) | Fort-bewegung | Fuhre Fuhrwerk Fahrt | Nachricht Sendung | Abenteuer Reise | Imaginäre Reisen| |
Figur | Wanderer | Träger | Bote | Ahasver | Pilger |
Literatur
Müller, Ulrich
,Werner Wunderlich
,Margarete Springeth
Burgen, Länder, Orte.
Konstanz 2008: UVK. Mittelaltermythen, Bd. 5. 1023 S. Inhalte u.a.:- zu den Orten: Aachen, Alhambra, Atlantis, Avalon, Babylon, Byzanz, Canossa, Indien, Island, Jerusalem, Mekka, Rhein, Rom, Santiago de Compostela, Thule, Troja, Wartburg
- zu den Phantasieorten: Garten Eden, Fegefeuer, Magog, Hölle, Locus amoenus, Luftschlösser, Kyffhäuser
- zu den Landschaftsräumen: Berg, Höhle, Inseln, Labyrinth, Wald, Weltflüsse, Wüste
Buhrer, Tanja
,Markus Pohlmann
,Daniel Marc Segesser
Globale Akteure an den Randzonen von Souveränität und Legitimität.
Comparativ 23.2 (2013) 152 S. Leipzig: Leipziger Universitatsverlag.
„Avantgardisten der Expansionwie Entdecker und Eroberer, die klassischen „Men on the Spot“ an der Peripherie von Imperien wie Militärs und Administratoren, private Gewaltunternehmer und Söldner, Insurgenten und Revolutionäre, sowie Spione und Nachrichtenhändler“ Zusammenfassung OnlineDally, Ortwin
(Hg.)
Politische Räume in vormodernen Gesellschaften: Gestaltung, Wahrnehmung, Funktion
Internationale Tagung des DAI und des DFG-Exzellenzclusters TOPOI vom 18.-22. November 2009 in Berlin. Rahden/Westf. 2012: VML, Verlag Marie Leidorf. Inhalt u.a.- Joseph Maran
Gesellschaftlicher Raum in schriftlosen und frühschriftlichen Epochen.
Möglichkeiten des Nachweises und der Interpretation. - Eva Cancik-Kirschbaum
Metrische Normierung: zu einer administrativen Dimension des politischen Raumes im Alten Orient - Jens-Olaf Lindermann
Der ordo mundi der römischen Feldmesser - Sebastian Frühinsfeld
Rechtsschutz von öffentlichen Wegen - Sybille Krämer
»Was eigentlich ist eine Karte?«
Wie Karten Räume darstellen und warumPtolemaios
zur Gründerfigur wissenschaftlicher Kartografie wird - Dieter Vieweger, Gabriele Rasbach und Knut Rassmann
Kontinuität und Diskontinuität: Vorrömische und römische Verkehrswege - Anne Kolb
Herrschaft durch Raumerschließung: Rom und sein Imperium - Camilla Campedelli
Von der römischen Besitzergreifung zur Verwaltung der Iberischen Halbinsel.
Das Zeugnis der Meilensteine - Ortwin Daily,Josef Eiwanger, Jutta Häser und DirceMarzoli
Interaktion: Seewege, Häfen und Hinterland.
Überlegungen am Beispiel von Taganrog, Mogador und Tiwi - Axel Posluschny
Von Nah und Fern? Methodische Aspekte zur Wegeforschung - Klaus Geus
Die Vermessung der Oikumene(n) - Stephan Johannes Seidlmayer
Die Südgrenze Ägyptens am Ersten Nilkatarakt - Stefan Esders
Zur Entwicklung der politischen Raumgliederung im Übergang von der Antike zum Mittelalter.
Das Beispiel des pagus - Andreas Victor Walser
Konstitution und Konfirmation von Grenzen in der römischen Religion
Devereux, Paul
Der heilige Ort: vom Naturtempel zum Sakralbau : wie die Menschen das Heilige in der Natur entdeckten.
(= The sacred place) 192 S. Aarau 2006: AT-Verlag. Inhalt u.a.:
innere Landkarte, Ritualhöhlen, Heilige Gipfel, Alte Bäume, Quellen & Wasser, Felskunst.Dienel, H. L., & Moraglio, M.
Dwelling in between?
Multilocation between history and new sociotechnical systems.
In C. Kopper & M. Moraglio (Hrsg.), The organization of transport: A history of users, industry, and public policy (S. 231–245). New York 2015: Routledge.Hohnsträter D.
Im Zwischenraum. Ein Lob des Grenzgängers.
S. 231-244 In: Benthien C., Krüger-Fürhoff I.M. (eds) Über Grenzen. J.B. Metzler, Stuttgart 1999. DOIKüchenhoff, Joachim
Loslassen und Bewahren: Erfahrungen in Zwischenräumen. Psyche 70.2 (2016) 154-179Katharina Manojlovic, Harald Schmiderer
Das Leben von den Zwischenräumen. Zu Peter Handkes Die Wiederholung
Aussiger Beiträge 4 (2010), S. 127–138Klaus E. Müller
Grundzüge der traditionellen ländlichen Siedlungstopographie.
in: Svend Hansen, Daniel Neumann and Tilmann Vachta (Eds.), Raum, Gabe und Erinnerung. Weihgaben und Heiligtümer in prähistorischen und antiken Gesellschaften, Berlin: Edition Topoi, 2016, 17–35 OnlineReuter, Julia
,Wiesner, Matthias
Soziologie im Zwischenraum: Grenzen einer transdifferenten Perspektive.
S. 129-143 In: Allolio-Näcke, Lars; Kalscheuer, Britta (Hg.), Kulturelle Differenzen begreifen. Das Konzept der Transdifferenz aus interdisziplinärer Sicht. Frankfurt am Main 2008: Campus.Roters, Katharina
Die Topografie des Dazwischenseins.
90 S. Diss. Köln/Budapest bei Prof. em. Dóra Maurer Ungarische Universität der Bildenden Künste 2010 und Thesen 2011 OnlineSaeverin, Peter F.
Zum Begriff der Schwelle: philosophische Untersuchung von Übergängen.
2002 BIS Verlag. ISBN 3-8142-0843-9 OnlineAurel Schmidt
Von Raum zu Raum. Versuch über das Reisen.
Berlin 1998. Inhalt u.a.:
Kapitel: Anfang und Aufbruch; Realisierte Utopie; Von der Polis ins Niemandsland; Beschleunigung und Stillstand; Digitale Urbanität; Der Raum als Information und ProzeßSlanička, Simona
Bastarde als Grenzgänger, Kreuzfahrer und Eroberer. Von der mittelalterlichen Alexanderrezeption bis zuJuan de Austria
.
S. 5-21 in: Werkstatt Geschichte, 18.51 (Aug. 2009) 127 S. Essen: Klartext.Soja, Edward W.
Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places.
Cambridge, Oxford 1996Turner, Victor
Betwixt and Between. The Liminal Period in ,Rites de Passage’.
In: ders.: The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Ithaca 1967Vetter, Andreas K.
Hermetische Architektur: Überlegungen zu einer grundsätzlichen Dimension.
Paderborn : Wilhelm Fink Verlag, 2019. DOI Inhalt u.a.:- Künstliche Raumbildung mit der trennenden Wand als Schutzschirm und funktionales Trennmedium, Einschluss & Ausschluss, innere Zonen, demonstrative Verschlossenheit, Abschreckung, abwehrende Gestalt und faktische Unzugänglichkeit, systemische Autarkie.
Elisabeth Vavra
(Hg.)
Virtuelle Räume: Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter.
Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003. X, 386 S. Berlin: Akademie-Verlag 2005. Inhalt u.a.:- Brinker-von der Heyde, Claudia
Zwischenräume: Zur Konstruktion und Funktion des handlungslosen Raums - Garzaniti, Marcello
Das Bild der Welt und die Suche nach dem irdischen Paradies in der Rus
Weidner, Katja
Erzählen im Zwischenraum
Narratologische Konfigurationen immanenter Jenseitsräume im 12. Jahrhundert.
357 S. Diss. Universität München 2018. Berlin: De Gruyter 2020.
Die Protagonisten (St. Brendan, St. Patrick) erleben Insel, Höhle und Wald im 12. Jahrhundert als Schauplätze außerweltlicher Erfahrungen, sie erleben das Paradies oder ein purgatorium.Wimmers J.
Im Zwischenraum von Selbst und Welt.
S. 169-204 In: Was ist wesentlich? Orientierung in einer komplexen Welt. Springer, Berlin, Heidelberg 2020. DOIZschocke, Martina
Mobilität in der Postmoderne: psychische Komponenten von Reisen und Leben im Ausland.
Zugl Diss. Leipzig 364 S. Würzburg 2005: Königshausen & Neumann.
Begriffsfelder
→ Liste der Raumvorstellungen
→ Frontiersmen, Grenzgänger, Men on the Spot, Pioniere, Voortrekker
Tiefenbach, Heinrich
Studien zu Wörtern volkssprachiger Herkunft in karolingischen Königsurkunden: ein Beitrag zur Wortschatz der Diplome Lothars I. u. Lothars II.
Diss. München 1973: Fink, S. 88 Fussnote 966
Fartacek, Gebhard
Pilgerstätten in der syrischen Peripherie: eine ethnologische Studie zur kognitiven Konstruktion sakraler Plätze und deren Praxisrelevanz.
219 S. Wien 2003: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Vachta, Tilmann
Zur Interpretation der Hortfundplätze.
S. 171–185 in: ders.: Bronzezeitliche Hortfunde und ihre Fundorte in Böhmen. Diss. FU Berlin. Berlin Edition Topoi, Exzellenzcluster Topoi der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin 2016.
Posluschny, Axel
Von Nah und Fern? Methodische Aspekte zur Wegeforschung.
S. 113-124 in: Politische Räume in vormodernen Gesellschaften. Gestaltung–Wahrnehmung–Funktion. Internationale Tagung des DAI und des DFG-Exzellenzclusters TOPOI vom 18.–22. November 2009 in Berlin. Leidorf Rahden/Westf, 2012