Peter Handke
Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt
Suhrkamp 1969
»Wir leben in der besten aller denkbaren möglichen Welten« Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) Essais de theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme, et l’origine du mal David Mortier, Amsterdam 1710
»Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein« Voltaire (1694-1778) Candide, Cramer, Genf 1759
Egozentrisch und klein gesehen ist »Welt« Alles, was Nicht-Ich ist, also »Außen« im Gegensatz zu Innen: »Ich bin meine Welt«, sagt Ludwig Wittgenstein
.
Zweitens ist »Welt« das vorstellbare Außerhalb bis an seine nicht überschreitbaren Grenzen, also je nach Umfang der Vorstellung:
Drittens schaffen wir uns eine »Welt« in der Vorstellung, die durch Glaube und Phantasie geformt wird, eine Weltanschauung. Damit ist ein gewisser Verlust an Sinn und Kommunikation unvermeidlich 1), aber die Sache funktioniert so lange, wie wir mit unserer Umwelt klarkommen; das Stachelschweinprinzip von Arthur Schopenhauer
beschreibt das sehr anschaulich 2). Neben die Wirklichkeit tritt damit die Möglichkeit, verbunden durch die Notwendigkeit. Das »Kripke«-Modell der Modallogik beschäftigt sich mathematisch mit dem Verhältnis möglicher und wirklicher Welten, benannt nach Saul Aaron Kripke
.
James Cowand
Viertens werden Welten gegliedert:
Columbus
wurde als Entdecker zum Paradigma.Holger Sonnabend
Tzvetan Todorov
Fünftens schließlich werden Welten konstruiert, mit Namen versehen und gezeichnet: es sind Weltkarten, die uns eine Vorstellung der Welt geben. Aber nicht alles, was die Kartographie auf Papier bannte, existierte tatsächlich. Die Vorstellungen in unserer Welt (→ Imagination und Anschauung) verdichten sich so zu einem Bild Afrikas, einem Bild Sibiriens, einem Bild von Amerika, einem Bild des Orients, einem Bild des Fernen Ostens usw. 4). Das Bild der Wirklichkeit auf der Basis der von den Wissenschaften geschaffenen Ergebnisse ermöglicht eine kosmopolitische Weltbewußtheit 5).
Sechstens - als gäbe es nicht schon genug Welten, gibt es die Welten die unsere Phantasie zu ihrem Vergnügen konstruiert.
Über das, was »wirklich« existiert, lässt sich streiten. Individuelle Wirklichkeiten des Einzelnen werden allgemein akzeptiert, wenn sie die allgemein anerkannten Wirklichkeiten nicht stören. Ihren nützlichen Wert finden sie im Probehandeln des Abenteuers und im Erforschen des Unbekannten. Im Unterschied zur anerkannten Wirklichkeit, dem Wissen, ist ihre Grundlage der Glaube und der Wunsch nach Illusionen.
»Wissen« ist objektiv sicher und wirklich - zumindest innerhalb definierter Grenzen. Wissen beruht auf Fakten, die immer wieder gleichermaßen reproduzierbar und überprüfbar sind, also auf äußerer Erfahrung und Erkennnnis der Wirklichkeit. Dem gegenüber beruht »Glauben« auf innerer Erfahrung und Einsicht und führt zu Überzeugungen. Idealerweise ergänzen sich beide. Als Einstein formulierte »Gott würfelt nicht!« widersprach seine innere Überzeugung dem, was er selber wissenschaftlich als wahr erkannt hatte.
Eine absolute »Wahrheit« gibt es für Menschen nicht. Als »Wahr« wird anerkannt, was nützlich ist und sich einfügt. Nützlich ist alles, was hilft, in der Welt zu überleben. Auch im Bereich der Theorie gibt es also ein »survival of the fittest«. Deren Richtigkeit zu beweisen (Verifikation) ist unmöglich. Stattdessen versucht man zu beweisen, dass sie falsch ist (Falsifikation). Solange sie nicht falsch ist, gilt sie als richtig. Dass die Erde eine Scheibe ist, ist durchaus vorstellbar. Das wurde erst dann falsch, als man zu den Grenzen der Meere segelte, die Welt umsegelte.
Etwas für wahr nehmen impliziert, die Wahl zu haben, es annehmen oder auch ablehnen zu können: »Das will ich nicht wahr haben«. Wahrnehmung entsteht über Sinneseindrücke; sich mit anderen über diese zu unterhalten, setzt ein gemeinsames Verständnis jedoch voraus. Darin liegt die soziale Dimension von Wahrnehmung. Ein Gehörloser, der erstmals Worte hört, nimmt nur Laute wahr, keine Bedeutung. Wahrnehmung ist anthropozentrisch.
Und so haben Weltreisende, die »die Welt gesehen haben«, auch Unverständnis und Misstrauen zu überwinden. Ihre Wahrheit entsteht im Zusammenspiel zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit und kann durchaus im Gegensatz zur Wahrheit stehen kann, wie sie daheim gesehen wird.
Bereits vor fast dreitausend Jahren ermahnt Homer
den Reisenden nicht zu lügen: »Aber verkündige mir und sage die lautere Wahrheit: Welche Länder bist du auf deinen Irren durchwandert? Und wie fandest du dort die Völker und die prächtigen Städte?« 6)
Dem hält Jacques Arago
(1790 - 1854) entgegen: »Um diese Wahrheit richtig zu begreifen, müßten Sie wie ich gereist sein. Sie sind zu Hause geblieben? Oh! dann glauben Sie mir aufs Wort. Sie sind nicht fähig, mich zu widerlegen. Was ich von Ihnen verlange? Daß Ihr lässiger Geist gewohnt ist zu gewähren. Haben Sie nicht jeden Kampf mit der Überlegung untersagt! Reisen ist Denken, und Sie verlassen Ihren Lehnstuhl nicht.«
Immanuel Kant
, der bekanntermaßen außer zu Spaziergängen nicht aus Königsberg heraus kam, sah das anders: »eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntniß als auch der Weltkenntniß genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann« 7)
Voltaire
(1694-1778) teilte Homers Skepsis und sah den Reisenden zumindest taktisch im Vorteil: »Wer von weither kommt, hat leicht lügen.«
Dass Reisende und Nicht-Reisende in zwei Welten leben, weiß aber schon das Sprichwort: »Das ist nicht wahr, sagte der Krebs, als die Schwalbe von ihrer Reise erzählte.« 8) Unter Ethnologen ist der »writing-culture« Effekt bekannt: Es ist unmöglich, die bei der »teilnehmenden Beobachtung« erlebte Wahrheit schriftstellerisch unverändert wiederzugeben; Fremdes wird konstruiert, denn Texte sind immer auch fiktiv.
Peter Braun
, Manfred Weinberg
(Hrsg.)
Dagegen hoffft Samuel Johnson
(1709 - 1784): »Der Sinn des Reisens besteht darin, unsere Phantasien durch die Wirklichkeit zu korrigieren. Statt uns die Welt vorzustellen, wie sie sein könnte, sehen wir sie wie sie ist.« Schwierig, denn Reisende werden ja von ihrer Phantasie erst in die Welt getrieben. Johann Wolfgang Goethe
(1749 - 1832) verlangt zudem Bildung als Voraussetzung für ein aufgeklärtes Reisen, denn »Man sieht nur, was man weiß.« Allerdings lässt sich das auch umgekehrt deuten: Wird Neues so ausgeblendet? Darauf bezieht sich Marcel Proust
(1871-1922), wenn er meint: »Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen.«9)
Und ist neues Wissen immer auch wertvoll? Henry de Montherlant
(1896-1972) zweifelt daran: »Man glaubt zu gewinnen, weil man an Breite gewinnt, und man verliert es an Tiefe. Man kehrt zurück, aufgeblasen von einem elenden Halbwissen, das schlimmer ist als Unwissenheit, da es Nichtvorhandenes vortäuscht.« Einen weiteren Nachteil sieht Max Dauthendey
(1867-1918) im »Gefängnis der Wirklichkeit«, denn »Sobald du dich in späteren Tagen an den bereisten Ort im Geist zurückversetzt, kommst du nicht über die Grenzen der ehemaligen wirklichen Tage hinaus. Du siehst jenen Ort immer wieder … Du bist verdammt, ihn ewig genauso zu sehen, wie er sich dir auf der Reise gezeigt hat. Dies ist der Fluch, der die Seele des Reisenden belastet. Die Flügel der Geistigkeit werden ihm von der Wirklichkeit beschnitten.« 10)
Martina Backes (Hg.) Fenster zur Parallelwelt. Reisebilder und Fernwehgeschichten Informationszentrum Dritte Welt Freiburg/Breisgau 2006 Broschur 16,5x23,5 cm: 224 Seiten, zahlreiche Textabbildungen, teils farbig.
Was dem Titel nach ein Science Fiction sein könnte, entpuppt sich als Sammlung von Reiseerlebnissen meist bekannter Autoren, von Mary Kingsley
bis Jon Krakauer
. Ausgewählt und zusammengestellt wurden die Texte in sieben Kapiteln: Vor der Reise; Being there; Exotik extrem; How much? Entdecken-Erobern-Erholen; Migration & Tourismus; Nach der Reise. Entsprechend finden sich also auch reflexive Texte, etwa von Alain de Botton
über Erwartungen. Insbesondere zwischen den Beiträgen erwarten den Leser die Bilder der Wanderausstellung »Beyond paradise. Stationen des touristischen Blicks«.
Der in der Gliederung kaum erkennbare Ansatz wird durch die bildhaften »Blickfänger« viel leichter verständlich, denn sie zeigen deutlich, in welchen Situationen sich Touristen und Einheimische begegnen, etwa als Konsumenten und Produzenten. Der einseitige tourismuskritische Ansatz wird durch Texte und Bilder relativiert. Reisende und Bereiste, Touristen und Dienstleister, touristische Quell- und Zielländer – solche Zuordnungen sind weder so einseitig noch so dauerhaft, wie dies tourismuskritische Modelle früher darstellten. »Fenster zur Parallelwelt möchte durch die Konfrontation mit anderen, ungewohnten Perspektiven neue Einblicke und Ausblicke auf die komplizierten Beziehungen … ermöglichen … oder als Spiegelungen einen Blick zurück auf die eigene Bilderwelt über die Fremde werfen.«
Unbestritten ist ja, daß die einen (Touristen) in eine Urlaubswelt flüchten, von der sie ein völlig falsches Bild haben und dafür bezahlen, dass dieses falsche Bild während des Urlaubs heil bleibt. Ebenso unbestritten ist, daß die anderen (Migranten) in eine Wirtschaftswelt flüchten, von der sie ein ebenso falsches Bild haben, dass sie sich ebenfalls nicht kaputt machen lassen. Beide suchen in der Fremde etwas, das sie in der Heimat nicht haben. Manche vollbringen das Kunststück, in beiden Welten zu leben. Schlaglichtartige Einsichten in diese Verhältnisse zeigt das Buch. Angenehm ist das lockere Layout trotz des ernsten Themas. Weniger locker ist der sprachliche Ausdruck einer vermutlich ideologischen Haltung, der sich in den Wortschöpfungen »ReisendeR, TouristInnen und DienstleisterInnen« wiederholt zeigt.
Alexander von Humboldt Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung 5 Bde., Stuttgart 1845-1851 Wolfgang Zank Von Globus an sich zum Globus für sich Geschichte der Globalisierung In: Pinkert, Ernst-Ulrich (Hg.): Die Globalisierung im Spiegel der Reiseliteratur München: Text und Kontext 2000. S. 15-26 Ian Morris Beute, Ernte, Öl Wie Energiequellen Gesellschaften formen Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020, 432 S.
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Peter Handke
Karlhans Abel
Tobias Gohlis, Christoph Hennig, Jürgen Kagelmann, Dieter Kramer, Hasso Spode
Ernst Moser
Homer
8. Jh. v. Chr., Odyssee, VIII, 572-574Karl Friedrich Wilhelm Wander